Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Und wenn sie nicht nur reich, sondern auch noch attraktiv ist, dann steht es außer Frage, daß man sie allzu lange in Ruhe läßt. Mehreren Ortes in der City stellten mächtige Männer bereits Berechnungen an, wenn auch nicht für sich, so doch für ihre Söhne: wieviel Tage es sich nämlich noch schickte zu warten, ehe man um ihre Hand anhielt, und wie man sie sanft unter Druck setzen könnte, um ihre Einwilligung gewissermaßen zu erzwingen.
    Doch noch unangenehmer machte sich bemerkbar, daß bei den angeblich geläuterten Söhnen Lionel und Thomas kurz nach dem Begräbnis alles wieder beim alten war, ja, genau in dem Augenblick, als sie erfuhren, was im Testament ihres Vaters stand. Was sie planten, war noch schlimmer als eine Ehe. Eines Nachmittags, als im Haus der Kendalls Ruhe eingekehrt war, Kendalls Lehrbuben und Gesellen ausgezogen waren und sich keine Besucher mehr die Türklinke in die Hand drückten, da donnerte Lionel an die Haustür und bat um Einlaß. Thomas versuchte es zur gleichen Zeit an der Hintertür. Zu ihrer Überraschung wurden die Haushaltsmitglieder, die beide Türen öffneten, auf der Stelle von einem halben Dutzend bewaffneter Banditen überwältigt, die sich jetzt hereindrängelten und die verschüchterten Dienstboten in der Diele zusammentrieben.
    »Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann versucht nicht zu fliehen«, sagte Lionel zu ihnen, lächelte dabei sein wölfisches Lächeln und schwang sein Kurzschwert. »Wir haben für Eure Herrin eine Überraschung auf Lager und lassen uns nicht gern dabei stören.« Als die Unholde die Nachzügler aus den Ställen hereingetrieben hatten, sperrten sie die Dienerschaft in einen Vorratsraum im Keller. Dann stürmten sie auf der Suche nach Margaret, ihren Kindern und der Kinderfrau die Treppe hoch.
    »Ha, Agatha, jetzt kriegst du endlich die Gelegenheit, sie zu versohlen, wie sie es verdienen«, lachte Thomas und warf der Kinderfrau einen Beutel voller Geld zu. »Paß auf sie auf, aber bring sie nicht um – wenn alles wie geplant läuft, dann machen wir ein gutes Geschäft mit dem Verkauf ihrer Mitgift.«
    »Stets gern zu Euren Diensten, Sir«, sagte sie mit einem Knicks und einem hämischen Grinsen.
    Die gedungenen Mordbuben hatten Margaret gefunden und hielten sie in ihrem Schlafzimmer an den Armen gepackt, während Lionel sie umschlich.
    »Los, du Dirne, sag uns, wo es ist«, fauchte er.
    »Wo was ist?« stieß Margaret hervor.
    »Tu doch nicht so, du weißt ganz gut, wonach wir suchen.«
    »Ich weiß es wirklich nicht, ich schwöre es«, sagte Margaret, doch ihre Antwort erboste Lionel nur noch mehr. Er hielt sie an der Kehle gepackt, als wollte er die Antwort aus ihr herauswürgen, als sein Bruder hereinkam:
    »Noch nicht erdrosseln; denk daran, wir kriegen gar nichts und verlieren alles, wenn du sie gleich umbringst«, rief er Lionel zu, der im gleichen Augenblick einen schrillen Schrei ausstieß.
    »Die Hexe hat mich verbrannt!« Heftig zog er die Hand zurück und betrachtete sie; es roch nach angesengtem Fleisch. Über seinen Handteller lief ein schwarzes Mal, ein Brandmal, das genau die gleichen Kettenglieder zeigte wie die Kette um Margarets Hals. Sie schreckte vor ihm zurück und versuchte mit der Hand nach ihrem Hals zu fassen, doch Lionels Männer hielten sie bei den Ellenbogen gepackt, und so konnte sie die schmerzende Stelle nicht erreichen. Am Halsansatz bildete sich im Nu ein großer, blauer Fleck, der wie zwei Daumen geformt war. Während des ganzen Zwischenspiels hatten die beiden Männer, die sie an den Armen festhielten, ihren Griff nicht gelockert.
    »Bruder, Bruder. Warte bis später. Bring sie zuerst zum Reden, ehe du etwas tust, was sich nicht wieder gutmachen läßt«, sagte Thomas. Auch er zog sein Messer und hielt ihr die Klinge an die Kehle. »Und jetzt«, sagte er, »erzählst du uns, wo es ist, oder du wirst es sehr, sehr langsam bereuen.«
    »Ich schwöre bei allen Heiligen, ich weiß nicht, was Ihr meint!« keuchte Margaret und traute sich nicht, auch nur den allerkleinsten Muskel zu rühren.
    »Das Testament, das Testament, du gerissene, tückische, kleine Schlampe. Das richtige. Das, was du gestohlen hast.«
    »Es gibt kein anderes Testament abgesehen von dem, das gerade eröffnet worden ist. Was um Himmels willen meint Ihr damit?«
    »Das Weib ist wirklich erstaunlich unverschämt, Bruder. Hörst du, wie sie es abstreitet?«
    Lionel stand von der Truhe auf, wo er gesessen und sich die verbrannte Hand gehalten

Weitere Kostenlose Bücher