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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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konnte nicht auch Margaret so fortfliegen? Ich laufe fort, schoß es mir durch den Kopf. Aber das ging nicht. Für eine Frau gibt es nur die Ehe. Sonst endet sie in der Gosse – das weiß doch jeder. Es mußte also sein. Ich versuchte mir einzureden, es sei alles gar nicht so schlimm. Alle sagen, man gewöhnt sich daran, und außerdem hat man Kinder, und die sind dann der Lohn. Wenigstens wird das behauptet. Ein niedliches Kindchen, gar nicht so schlecht. Dann müßte ich wirklich nicht mehr über ihn nachdenken.
    Nicht lange nachdem wir die Kirchtürme, die niedrige Stadtmauer und die Burgtürme der Stadt gesichtet hatten, wurden die Maultiere in den Stall von Master Smalls Anwesen geführt. Es glich mehr oder weniger den anderen Häusern von Kleinkrämern, die zu beiden Seiten standen. Die Vorderfront verlief in einer Flucht mit der Straße, das untere Stockwerk war lediglich ein langer, unterteilter Raum mit der großen Diele in der Mitte, dahinter die Küche, die Gesinde- und Lehrlingsquartiere und ein Laden zur Straße hin. Nach hinten heraus gab es einen bezaubernden, kleinen Garten. Unter der Diele befanden sich im Keller Lagerräume, die nach Fellen stanken und darüber ein Schlafzimmer mit Söller. Im ersten Raum, unserem Schlafzimmer, stand ein großes Himmelbett, am Fußende eine Lade für wertvolle Dinge. Außerdem ein Tisch und eine weitere Lade am Fenster zur Straße hin, wo mein Mann seine Buchführung machte. Im zweiten Zimmer, in dem Frauenarbeiten wie Nähen und Weben verrichtet wurden, schliefen sein Sohn aus erster Ehe und dessen Kinderfrau. Außerdem standen in dem Zimmer eine leere Wiege und ein weiteres Bett. Es war klar, daß Lewis Small sich so schnell wie möglich mehr Kinder erhoffte.
    Selbst wenn das Gesinde nicht so ernst und still gewesen wäre, ich hätte von Anbeginn an gemerkt, daß in diesem Haus etwas nicht stimmte. Ich dachte, ich wüßte warum, als das Kindermädchen Master Smalls kleinen Sohn zur Begrüßung hereinbrachte. Es war ein kleiner, blasser Junge, keine fünf Lenze alt, der seinen Vater mit großen glänzenden, blöden, blauen Augen anstarrte, ohne ihn zu erkennen. Er konnte nicht sprechen. Als ich sein schmales, ungesundes Gesichtchen sah, da kam mir jäh ein gemeiner Gedanke: Kinder kann ich besser machen. Ich sah, wie Smalls Augen schmal wurden, als er den Jungen mit ruhiger, harter Stimme fortschickte. Ein eitler Mann, dachte ich, der die öffentliche Schande nicht erträgt, daß er einen Simpel zum Erben hat. Und dabei war in Wirklichkeit ich der Simpel. Jedoch dauerte es in Master Smalls Haus nicht lange, und ich hatte herausgefunden, wie simpel ein Mädchen ohne weltläufige Erfahrung doch sein kann. Wenn ich auch nur geahnt hätte, um wieviel weniger simpel ich bald sein würde, ich hätte mich damals noch mehr gefürchtet.
    Nachdem er das Kind fortgeschickt hatte, rief mein Mann nach Wasser, um sich den Reisestaub von Händen und Gesicht zu waschen, und schickte einen Jungen mit der Botschaft zum Pfarrer, er sei zurück. Dieser treffliche Mann traf denn auch bald ein, gefolgt von einem Jungen mit einem Weihrauchgefäß, um das Brautlager zu segnen und um Söhne zu beten. Rings um das Bett scharten sich viele Menschen – ich wußte nicht so recht, wer davon die Verwandten waren –, während der Priester endlos um Söhne, Enkel und Urenkel betete, das Bett mit Weihwasser besprengte und den Raum verräucherte.
    Draußen auf der Straße, unter dem Fenster, grölten und pfiffen seine Freunde in der sommerlichen Abenddämmerung. Bei dem Lärm flackerten Smalls Augen so fahrig wie die Kerzen in den schwarzen, eisernen Wandleuchtern. Im Zimmer war es vollkommen still, abgesehen von seinem Atem, während er mich langsam von oben bis unten musterte, die ich immer noch in meinem Hochzeitskleid dastand. Sein Blick machte mir Angst, und ich setzte mich auf die Bettkante, während er dastand, die Hände in die Hüfte gestützt, und mich immer noch wortlos ansah. Dann durchmaß er auf einmal das Zimmer, verriegelte die Tür und richtete ohne das mindeste Lächeln das Wort an mich.
    »Zieh das da aus. Ich will sehen, was ich gekriegt habe.« Er blinzelte so flink wie ein Reptil. Ich blickte ihn bestürzt an. Eine Hochzeitsnacht ohne Küsse und süße Worte konnte ich mir nicht vorstellen.
    »Hat man dir nicht beigebracht, daß du deinem Ehemann in allen Dingen Gehorsam schuldest?« Seine Stimme klang leise und scharf, auf seinem Gesicht lag der Abglanz eines kalten

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