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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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fragt.«
    »Dann hast du wohl den Burschen mit dem gelben Gesicht aus Venedig vergessen.«
    »Italiener gelten nicht – die sind doch alle übergeschnappt.«
    »Nicht so übergeschnappt wie die Deutschen, wenn ihr mich fragt.«
    »Nun ist aber Schluß«, sagte Bruder Gregory bei sich. »Ich gehe, und dann kann sie mich suchen kommen und betteln. Ich bin von meiner Neugier kuriert.« Und schnellen, zornigen Schrittes war er bei der Haustür angelangt, wobei er fast seiner Nase verlustig gegangen wäre, weil die Tür nämlich aufgestoßen wurde, um Margaret, gefolgt von einem Diener mit einem leeren Korb, einzulassen.
    »Aber, Bruder Gregory! Ihr wollt doch nicht etwa schon gehen?« Margaret erfaßte mit einem Blick die Verärgerung, die Bruder Gregory ausstrahlte, gleichsam wie Hitzewellen, die man über einem Kornfeld wabern sehen kann. Sie war in Fütterstimmung. Die kam zuweilen über sie und war das Ergebnis von all dem Gekoche und Gefüttere, zu dem man sie auf dem Bauernhof angehalten hatte. Sie war unterwegs gewesen, um die Armen zu füttern, nachdem sie sich zuvor schon ihre Töchter und sämtliche Lehrbuben geschnappt und abgefüttert hatte. Jetzt musterte sie Bruder Gregory prüfend. Er mußte ganz entschieden gefüttert werden.
    »Ihr habt noch nicht gefrühstückt, wie? Ihr seid viel zu groß, als daß Ihr ohne Frühstück auskommen könntet. Ihr werdet ja krank und schwach.« (Kurzgeratenen Menschen erzählte sie, wenn diese Stimmung über sie kam, man könne noch wachsen.) »Also, umgedreht und dorthin gesetzt, während ich nachsehe, ob die Köchin noch ein bißchen für Euch hat.«
    Einer Frau in Fütterstimmung kann man sich unmöglich widersetzen. Es ist, als könnte sie geradewegs durch einen hindurchblicken bis hin zu jener kleinen, schwachen Stelle, die dort seit Kleinkinderzeiten ist und die nicht weiß, wie man sich gegen Autorität sperrt. Bruder Gregory ließ sich lammfromm von ihr hinsetzen, während man ihm Brot, Käse und einen Krug Ale brachte. Sie stand vor ihm, während er aß, und als man ihm ansah, daß er zusehends umgänglicher wurde, sagte sie:
    »Na! Wenn Ihr das nicht gebraucht habt? Wenn alle Welt frühstücken würde, es gäbe keine Kriege mehr.«
    Bruder Gregorys angeborene Streitlust war zurückgekehrt, und er antwortete mit halbvollem Mund:
    »Das ist eine gänzlich unlogische Feststellung. Der Herzog von Lancaster, welcher ein großer Krieger ist, frühstückt jeden Tag. Doch ich weiß von einem heiligen Abt, der tagelang nichts zu sich nimmt und nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tut.«
    »Man kann eben nicht alles nur mit zwei Beispielen beweisen.«
    »Ihr habt gerade versucht, ein empörendes non sequitur mit lediglich einem Beispiel zu beweisen – mit mir«, sagte Bruder Gregory süßsauer.
    »Ach, Latein, dahinter wollt Ihr euch also verstecken.«
    »Ich verstecke mich überhaupt nicht, ich sitze hier vor Euch und erinnere Euch daran, daß Euer Buch nicht vorankommt«, sagte Bruder Gregory und verputzte auch noch das letzte Stück Brot.
    »Lieber Himmel, wir haben ja kaum noch Zeit!« rief Margaret, und so machten sie sich umgehend an die Arbeit.

    Alle führten nur noch den Namen und das Lob meines Freiers im Munde. Dieser Lewis Small, wie eindrucksvoll, wie elegant! Was für ein Glück Margaret doch hat, wirklich zuviel Glück, es ist schlechterdings ungerecht, sagten alle. Niemand scherte sich darum, wie oft ich sagte: »Ich will ihn nicht! Er macht mir Angst!« Immer nur »die glückliche Margaret, so ein selbstsüchtiges Mädchen, sie weiß nicht zu schätzen, was andere für sie tun. So ist sie schon immer gewesen, wenn man es recht bedenkt«. Man sagt, nur Toren setzen sich gegen das Schicksal zur Wehr. Aber ich finde das gar nicht töricht. Schließlich weiß man nie, wie alles hinterher kommt, bis es dann gekommen ist, warum also sich gleich hinsetzen und Däumchen drehen? Aber damit konnte ich zu niemandem gehen, beim besten Willen zu niemandem. Also wandte ich mich an Vater Ambrose und weinte. Schließlich muß einem der Beichtvater doch zuhören, auch wenn er nicht will. Gewiß, so sagte ich und wischte mir die Augen, findet Gott, daß Leute, die nicht heiraten wollen, nicht heiraten müssen. Aber zu meiner Überraschung wurde die Miene des Priesters hart, als ich ihm erzählte, daß Master Smalls Gesicht mir Angst einjagte. Ich müsse die Furcht überwinden, belehrte er mich, und mich dem Willen meiner Eltern fügen, denn das sei auch der Wille

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