Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Schwelle zu dem geräumigen Lagerraum stand er still, hielt die Kerze hoch und lächelte sein fürchterliches Lächeln.
    »Jungs!« rief er, »ich habe eine freudige Pflicht vernachlässigt! Bringt das Edelste der neuen Ladung aus London als persönliches Geschenk für William le Drapers Tochter zu ihrem Hochzeitsfest in sein Haus! Und die Zobelfelle hier, die bringt Ihr William selbst und sagt ihm, es sei eine Liebesgabe von mir, und ich möchte, daß alle Meinungsverschiedenheiten zwischen uns in Christi Namen beigelegt sind. Los, los! Und daß Ihr sie ihm auch ja persönlich übergebt!«
    Dann ergriff er mich hart beim Handgelenk, blies die Kerze aus und zog mich rasch nach oben ins Schlafzimmer.
    »Hol deinen Reiseumhang und deine Sachen«, sagte er und hielt mir eine offene Satteltasche hin. Er schloß seine große Lade mit seinem Schlüssel auf und holte Gold heraus und füllte eine Geldkatze und die hohlen Hacken seiner hölzernen Stelzenschuhe mit Goldmünzen. Er band sich Holzschuhe und Geldgürtel um und griff nach Mantel, Schwert und Schild.
    »Wohin nimmst du mich mit?« fragte ich, denn seine jähe, stumme Geschäftigkeit erschreckte mich. Er schenkte mir einen eisigen Blick.
    »Ich nehme nicht dich mit, Mistress Small, sondern meinen Sohn.«
    Im Nu waren wir unten und im Hof. So hitzig schritt er aus, daß die Hühner auseinanderspritzten, während er eilends den Stallknecht aus dem Bett trommelte, daß er ihm seinen Zelter und mir meinen Maulesel sattelte. Small band die Satteltaschen selber fest, während der alte Mann mir beim Aufsteigen behilflich war, denn ich war sehr schwerfällig.
    »Nehmt Euch gut in acht, Mistress Margaret, und kommt bald wieder«, sagte der freundliche, alte Mann. »Und Ihr auch, Master«, setzte er nachträglich respektvoll hinzu.
    Als unsere Reittiere aus dem Hoftor klabasterten, ritt mir Small stumm voraus, und sein Kinn sah so ehern verbissen aus wie das einer Statue. Seine Miene entspannte sich erst, als wir ein gutes Stück zum Stadttor hinaus und auf dem Lande waren.
    »Wohin reiten wir?« wagte ich zuletzt zu fragen. »Und warum diese Eile?«
    »Was geht es dich an, wohin du reitest, wenn es dein Mann so will? Laß dir jedoch eins gesagt sein: auf dem Land, ganz aus der Welt, wohnt ein Mann, der mir etwas schuldet, und dorthin gehen wir für eine Weile, bis wir wieder nach Haus zurückkehren können.«
    »Aber es geziemt sich nicht, so eilig und ohne Lebewohl aufzubrechen und alles stehen und liegen zu lassen«, sorgte ich mich.
    »Was sich in diesem Fall ziemt, bestimme ich«, gab er zurück und ließ sein furchtbares, kaltes Lächeln aufblitzen. »Wenn du besser zugehört und weniger geredet hättest, so wüßtest du, was ich auf der Stelle wußte. Jene Pelze aus London sind verseucht. Es ist Pestware, und sie haben uns den Schwarzen Tod ins Haus gebracht.«
    »Lieber Jesus!« Ich bekreuzigte mich, »dann waren die Hochzeitsgeschenke –«
    Lewis Smalls Lächeln war so süß, daß es fast zärtlich wirkte, und er antwortete:
    »Ich finde, man sollte seine Freunde an seinem Glück teilhaben lassen.«
    Voller Entsetzen stellte ich mir Williams lächelnde Tochter vor, wie sie die weichen Pelze am Vorabend ihrer Hochzeit streichelte, vielleicht in Gesellschaft ihrer Brautjungfern, Freunde und Verwandten, die sich eingestellt hatten, um ihre Geschenke zu bewundern. Das Geschenk des Todes schlechthin!
    Ihr ehrbarer Vater, der getäuscht von der christlichen Botschaft, die Zobelfelle persönlich entgegengenommen hat, ruht vielleicht, weil er sich etwas unwohl fühlt und damit nicht die Festlichkeit stören möchte. In der Zwischenzeit haben unsere eigenen Lehrlinge, diese unabsichtlichen Todesboten, beschlossen, auf dem Heimweg schnell in einer Schenke einzukehren, denn wer kommt schon dahinter, wenn sie sich heimlich ein Ale genehmigen? Der Todeshauch verläßt die Schenke und fegt wie Höllenflammen durch die Stadt. In unserem eigenen Haus ist der Priester eingetroffen, hat den bedauernswerten Leichnam ausgesegnet und trägt nun die furchtbare Gabe heim in die Kirche. Wenn dieser Lewis Small nicht einen Verstand sondergleichen hatte, und dazu so praktisch! Auf einen Streich hatte er sich an seinem Feind wie auch an der Welt für den Verlust seiner Güter gerächt.
    Schweigend trabten wir dahin und hielten nicht einmal bei Anbruch der Nacht an, denn der Mond schien hell und Small wollte die ganze Nacht durchreiten, um so schnell es ging, möglichst viel Entfernung

Weitere Kostenlose Bücher