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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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war es ein schreckliches Strafgericht. Es hatte nämlich kein Gesicht.«
    »Kein Gesicht? Wie war denn das möglich?«
    »Naja, ein bißchen Gesicht hatte es schon, Augen und so. Aber wo bei ihm die Nase und die Oberlippe hätten sein sollen, da war nur ein großes Loch. Es wimmerte tagelang, aber weil es keinen Mund hatte, konnte es nicht saugen und ist so nach und nach verhungert.«
    »Was für eine schreckliche Geschichte. Derlei habe ich noch nie gehört.«
    »Er hat gesagt, sie sei eine Hexe, denn sie könne nur Ungeheuer gebären. Ich aber sage, er ist ein Teufel, der nur Ungeheuer zeugen konnte. Aber ganz gleich, was alle sagen, danach wartete sie ab, bis er eines Tages außer Haus war und erhängte sich dort im Schlafzimmer. Und das Kind hat sie dann gefunden. Von dem Tag an hat es nie wieder gesprochen. Früher redete es ein, zwei Worte und sang wohl auch, wenn ihm danach war, aber jetzt glotzt es nur noch.«
    »Danke, daß du's mir erzählt hast, Berthe. Das macht es leichter für mich. Jetzt begreife ich auch, warum sie gesagt hat, daß andere für sie beten.«
    »Hat sie das? Das arme Mädchen. Ihr Vater ist nämlich vor Kummer gestorben, und so kam Small zu Geld, denn er hat der Wittib vor Gericht alles weggenommen.«
    Das also war des Rätsels Lösung. Welche ehrbaren Eltern, denen diese Geschichte bekannt war, würden ihre Tochter wohl einem solchen Mann anvertrauen? Wenn er Erben haben wollte, mußte er für eine neue Ehefrau schon weit in die Ferne schweifen, aufs Land, wohin die Geschichte nicht gedrungen war. In dieser Stadt waren ihm die Türen aller anständigen Eltern gewißlich verschlossen. O Mutter, durch dich bin ich vom Regen in die Traufe gekommen, weil du mich statt mit dem armen Richard Dale mit dem wohlhabenden Lewis Small verheiratet hast!
    Und so ging ich denn zur Vesper, wollte vor der Muttergottes niederknien, meine Kerze anzünden und ihr mein Herz ausschütten. Allerheiligen war weitaus größer als die kleine, ausgemalte Steinkirche meiner Kindheit. Die Zünfte hatten sie mit vielen Kapellen und Schreinen geziert. Zwischen den Reliquienschreinen und den bemalten Heiligenfiguren, welche das Mittelschiff säumten, glitzerte es von silbernen Opfergaben. Doch mir erschien die Statue der Muttergottes am schönsten, welche die Kaufmannszunft in Auftrag gegeben hatte. Ich ging oft in die Marienkapelle, denn etwas am Antlitz der Statue erinnerte mich an meine eigene, echte Mutter. Was auch immer mich bekümmerte, in ihrer heiter gelassenen Gegenwart schien es zu verfliegen.
    Im abnehmenden Zwielicht hüllte sich die Marienkapelle in eine Wolke von Schweigen, die so faßbar war, daß die Welt da draußen in ihr zu verblassen und zu vergehen schien. Letzte, schräge Sonnenstrahlen fielen durch die Fensterrose und erhellten die hohen, schattigen Schwibbogen der Kirche in buntem Licht und fielen am Ende in leuchtenden Spiralen auf den Boden. Vor der Muttergottes flackerte und gleißte im Halbdunkel ein Wald von kleinen Kerzen. Süßer Bienenwachs- und Weihrauchduft umwehte den geschnitzten Saum ihrer vergoldeten Gewänder. Fast lebensgroß betrachtete sie die Welt mit sanfter, feierlicher Miene, und unter ihrer schweren Krone lockte sich ihr langes Haar, rieselte herab und umgab ihre Schultern und Ärmel gleichsam wie ein Umhang. Auf einem Arm hielt sie ihren pummeligen und friedlichen Sohn, unter ihren zarten, nackten Füßen lag ein zertretener, halb menschlicher Dämon, der sich in Todesqualen wand: die leibhaftige Sünde , welche die Unbefleckte nicht zu berühren vermochte und von der Macht der Liebe besiegt wurde. Das geschnitzte Holz ihres fließenden Gewandes war reich bemalt und vergoldet. Nur Gesicht, Hände und Füße waren blankes Holz, hell und poliert wie lebendiges Fleisch. In ihren mit Elfenbein und Lapislazuli eingelegten Augen fing sich das aufleuchtende Kerzengeflacker, so daß sie leuchteten, als wären sie lebendig.
    Ich hatte eine sehr schöne Kerze gekauft und stellte sie zu dem schmelzenden Wald vor ihr. Mit ganzer Seele betete ich, sie möge für das erhängte Mädchen Fürsprache einlegen, denn schließlich kann die Muttergottes jedes Wunder bewirken, wenn sie will. Während ich betete, spürte ich, wie die Düsternis aus meinem Herzen wich. Die Schatten rings um sie wurden licht, und als ich ihr ins heitere Antlitz schaute, da vermeinte ich etwas zu sehen – vielleicht spielte mir aber auch das Kerzenlicht einen Streich. Ein Lidschlag der lebendigen Augen, und ihr

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