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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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zwischen die Stadt und uns zu legen. Auf dem schmalen Weg schimmerten die Steine im kalten Sternenlicht. Als es dämmerte, beklagte ich mich, ich wäre hungrig, denn wenn ich ein Kind trage, bin ich gefräßig wie ein Wolf, aber Small sagte, wir würden weiterreiten, ein Dorf sei nicht mehr fern.
    Er hatte recht, denn schon bald wand sich der staubige Pfad durch Hintergassen und an der Allmende eines Dörfchens vorbei, nicht größer als das, in dem ich geboren war. Wo das Ale-Ausschankschild hing und Erfrischungen verhieß, hielten wir kurz an und wehrten alle Fragen ab, während wir aßen und tranken. Als wir aufbrachen, hörte ich die Gevatterin sagen:
    »Das arme Mädchen, er bringt sie zu ihren Eltern zurück, weil sie ein Kind von einem anderen bekommt.«
    »Nein«, sagte eine andere Frau, »sie selber hat mir gesagt, daß sie zurückkehren, um sich noch einmal von ihrer Mutter segnen zu lassen, welche im Sterben liegt –«
    Kurz vor Mitternacht konnte ich nicht mehr. Bis auf den heutigen Tag gehöre ich nicht zu den Menschen, die Tag und Nacht ohne Schlaf reiten können.
    »Bitte, Hausvater, nur einen Augenblick Rast, um des Kindes willen.«
    Diese Worte waren der einzige Schlüssel zu seinem Herzen, und so stieg er ab, band sein Pferd an und half mir abzusteigen und mich am Straßenrand unter einem Baum hinzulegen.
    »Hast du Wasser? Ich bin sehr durstig«, bat ich, denn auf einmal fühlte ich mich sehr matt. Er suchte nach der Lederflasche, die er mitgenommen hatte. Doch dann warf er mir plötzlich einen mißtrauischen Blick zu. Schnellen Schrittes kam er zurück, kniete nieder und befühlte meine Stirn.
    »Aber Hausfrau«, sagte er ruhig, »du scheinst zu fiebern. Bleib hier liegen und ruh dich aus, ich eile ins nächste Dorf und hole Hilfe.« Er band mein Maultier an seinem Zwiesel fest und stieg mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung auf.
    »Denk dran, ich bin bald wieder da«, rief er und lächelte mir zu. Und dieses Lächeln sagte mir jäh, daß ich ihn nie wiedersehen würde und daß aus keinem Dorf Hilfe kommen würde. Ich schloß die Augen, denn das Licht tat mir inzwischen weh, und das letzte, an was ich mich erinnere, war das Knirschen des Pferdegeschirrs und das weiche Tripp-Trapp der Hufe im Staub, während er für immer von mir schied.

    Bruder Gregory hob kein einziges Mal den Blick. Als er einen säuberlichen, kleinen Schnörkel am Ende des letzten Buchstabens anbrachte, war sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Margaret konnte sehen, daß er die Zähne zusammenbiß, und schon begann sie sich insgeheim Sorgen zu machen. Vielleicht gab er auf und ging schließlich doch noch. Bruder Gregory war so prüde und leicht beleidigt. Wahrscheinlich wollte er gleich wieder irgendwo einen unleidlichen Großen Meister zitieren, worauf sie aufs Neue die unselige Stimme bedauern würde. Allein schon der Gedanke, wie ekelhaft er wahrscheinlich sein würde, machte, daß ihre Nadel so gemein schnell durch einen französischen Knoten in der Stickerei fuhr, an der sie gerade arbeitete, daß sie sich in den Finger stach. Während sie ihren verletzten Finger versorgte, ließ sich der Gedanke nicht abweisen, wie schwer es doch war, sich einfach nur vorzunehmen, etwas zu sagen, auch ohne daß man sich auf einen Vortrag über das, was sich ziemt, gefaßt machen mußte. Und wie soll man überhaupt zum springenden Punkt einer Geschichte kommen, wenn der am Ende ist, man aber die Mitte nicht auslassen darf?
    »Habt Ihr viele Geister gesehen?« Bruder Gregory wandte sich um und blickte sie nachdenklich an.
    »Nein, nur den einen«, sagte Margaret in ihre Stickerei hinein.
    »Ein Jammer«, sagte Bruder Gregory. »Ich habe einmal einen Laienbruder gekannt, der regelmäßig warnende Gesichte hatte. Ausnehmend praktisch, vor allem um die Zeit der Aussaat herum.« Er konnte die Augen nicht von der Nadel abwenden, die sich im Stickrahmen im entstehenden Blattwerk auf- und abbewegte. Halb verborgen unter einem Blatt saß ein Blutstropfen. Sie sah überaus unschuldig aus – kaum zu glauben, daß diese Heuchlerin schon den zweiten Ehemann hatte. War der erste also doch gestorben? Wahrscheinlich würde sich schon recht bald herausstellen, daß sie sich dem zweiten über den Sarg des ersten hinweg an den Hals geworfen hatte, wie die Frau im Witz. Hatte einen alten Kerl aufgetan, der sie gewähren lassen würde, und ihm mit Augengeklapper und geschnürtem Mieder den Kopf verdreht. Ein Jammer. Bei Frauen und Jagdhunden geht die

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