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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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und den besseren Häusern des Dorfes war die Entfernung zwischen der Armut einer Wittib und den wohlhabenden Familien – könnte man die Entfernung zwischen dem reichen Mann und Lazarus messen, käme man vermutlich auf tausend und mehr Meilen im Geist. Und so ging ich denn diese wenigen tausend Meilen und dachte nach. Sorgsam machte ich auf dem Weg einen Bogen um den aufgedunsenen, fliegenbedeckten Kadaver eines Ochsen, und als ich mich dem Feldweg beim Birnbaum näherte, nach dessen Birnen es Hilde so gelüstete, da konnte ich auf den Türstufen der Häuser Eidechsen rascheln hören. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser furchtbaren Pestilenz, daß selbst die Kleinlebewesen davon erfaßt wurden, aus ihren Höhlen ans Tageslicht kamen und starben. Ich sah etliche zusammengerollt und verdorrt am Straßenrand liegen, und selbst die wilden Tiere schienen zu zögern, sich an ihnen gütlich zu tun.
    Der Birnbaum stand nicht allzu dicht an der Hütte, von der Hilde gesprochen hatte, und so las ich ein gutes Dutzend Birnen in meine Schürze, ohne daß ich das tödliche Gift im Innern des Hauses fürchten mußte. Den Weg hinauf und hinunter ging in den leeren Häuser der Tod um. Hier stand eine Tür offen und schlug im Wind hin und her. Dort lag am Straßenrand der Lederball eines Kindes. Das Ale-Ausschankschild hing verloren über der offenen Schenkentür. Im Haus dahinter sah man Anzeichen für einen eiligen Aufbruch, ein zerbrochener und ausgeflossener Krug war am Wegesrand liegengeblieben, als die Familie kopfüber die Flucht ergriffen hatte.
    Während meine Füße wie von allein durch den Staub stapften, brütete ich vor mich hin. Der Gegensatz zwischen dem strahlenden Tag und der Trostlosigkeit alles Menschlichen machte mir Angst. Wollte Gott die menschliche Rasse für ihre Sünden bestrafen? Welche Sünden waren so groß, daß alles, was da atmete, elendiglich zugrunde gehen mußte? Oder vielleicht hatte Gott das gar nicht getan. Vielleicht hatte er die Welt aufgegeben, und das hier war das Werk des Teufels. Aber der Teufel kann keinen schönen Tag machen oder daß sich die Zweige der Apfelbäume unter dem Gewicht der nicht gepflückten Früchte biegen. Ganz gewiß nicht. Dann war ich offenbar nicht klug genug, um das alles zu verstehen. Wo war der Mensch, der mir das erklären konnte? Dann dachte ich, vielleicht ist es doch so, wie die Priester behaupten, daß nämlich alles in den Heiligen Schriften steht. Wie überaus traurig, dachte ich, denn nie würde ich das Buch finden, welches das Geheimnis barg. Und wenn ich es fände, so könnte ich es nicht lesen. Warum mußte das Geheimnis Menschen wie mir auf ewig verborgen bleiben? Ich ärgerte mich nicht einmal mehr über die Ungerechtigkeit, die darin lag. Ich war jenseits allen Fühlens. Ich blickte auf, als ein Schatten über meinen Weg fiel. Der Kirchturm ragte vor mir empor. Ohne dessen richtig gewahr zu werden, hatte ich auf der Dorfstraße den Weg zum Kirchhof eingeschlagen.
    »Vielleicht ist das Geheimnis ja dort drinnen«, ging es mir vage durch den Kopf. Aber dann schreckte ich jäh zurück und hätte fast die Flucht ergriffen. Denn hinter dem Tor, vor dem Kirchenportal, befand sich der Friedhof in einem grausigen Durcheinander. Mit dem Fortschreiten der Pestilenz hatte man die Gräber flacher ausgehoben und in eines mehrere Leichen gebettet. Die obersten lagen so dicht unter der Erde, daß Tiere sie ausgegraben hatten und jetzt gräßlich verstümmelte Gliedmaßen und Fetzen von verrottenden Leichentüchern aus den staubigen Erdhügeln hervorlugten. Überall in der Luft hing Verwesungsgeruch.
    Ich bekreuzigte mich, mir schauderte, und das nicht nur aus Furcht um meine Seele, denn zwischen den Gräbern lauerten wilde Hunde; einer hatte entschieden einen Menschenknochen im Maul. Dort in der Ecke lag der angenagte Schädel eines Kindes, an dem noch eine lange Haarsträhne hing, den ein anderer fallengelassen hatte. Ein dürrer, schwarzweißer Köter fletschte die gelben Zähne, als ich mich näherte, floh aber, und die anderen folgten ihm und verzogen sich in den Schatten hinter den Grabsteinen, von wo sie mich abschätzenden Blickes betrachteten.
    Warum ging ich weiter? Selbst heute weiß ich es nicht zu sagen. Ich glaube, ich mußte weitergehen, weil es so bestimmt war. Irgendwie war mir, als ginge ich geradewegs in den Tod hinein. Und Vater Ambrose hatte immer gesagt, daß wir nur durch den Tod zum ewigen Leben geboren werden. Das war denn wohl der

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