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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Halbkreise in Gelbgrün. Selbst die Erde gab ein tiefes, warmes Leuchten von sich.
    »Was ist mit den Steinen? Sind nur die lebendigen Dinge Licht?« Eingehend betrachtete ich einen großen Stein und sah, daß er von tief innen heraus dunkel, verschwommen orangerot leuchtete.
    »Was ist mit den einst lebendigen, jetzt aber toten Dingen?« Ich betrachtete einen abgestorbenen Ast, an dem entlang immer noch das Orange des dazugehörigen Baumes spielte, jedoch in einem ganz, ganz hellen Ton. Ein Knochen leuchtete in einem sanften, hellen, erlesenen Grün.
    »Alles ist Licht!« staunte ich. »Wir sind alle Licht, alle sind wir eins! Alle und alles!« Eine wilde Freude ergriff ganz von mir Besitz.
    Auf dem Heimweg beschäftigte ich mich damit, die verwandelten Dinge, Kreaturen und Pflanzen anzuschauen. Ich konnte die im Gras verborgenen Insekten an ihrem bunten Gefunkel erkennen. Die Landstraße, die Felder, die Bäume, alles war zauberisch und faszinierend.
    Immer noch in Trance, machte ich die niedrige Tür von Hildes dunkler Kate auf. Ei, die bereitete mir einen sonderbaren Empfang.
    »O du lieber, süßer Jesus, steh mir bei«, schrie die alte Frau und wich vom Feuer in den entgegengesetzten Winkel zurück.
    »Stimmt etwas nicht?« wollte ich fragen, doch mein Mund bewegte sich wohl, aber kein Laut kam heraus. Ich versuchte es, versuchte zu sprechen, doch die Worte wollten nicht kommen.
    Dann hörte ich die tiefe Stimme in und rings um meine Ohren dröhnen; sie kam aus dem Universum und lief mir gleichzeitig das Rückgrat hoch. Sie sagte:
    »Gott ist das Licht.«
    Hilde fiel auf die Knie und bekreuzigte sich. Ob sie das auch hörte? Ich fand die Stimme wieder und fragte schließlich:
    »Liebe Mutter Hilde, um Himmels willen, stimmt etwas nicht?«
    »Margaret«, gab sie mit bebender Stimme zurück, »etwas, etwas leuchtet rings um deinen Kopf und deine Schultern. Orangefarbenes Licht mit goldenen Spitzen umfließt deinen Kopf. Dein Gesicht strahlt, strahlt in einem gelben Schein. Ich fürchte mich sehr vor dir.«
    »Ach, meine liebe, liebe Freundin. Ich glaube, ich bin von Sinnen. Mich erfüllt eine so unbeschreibliche Freude.«
    »Ich habe viele gesehen, die von Sinnen waren, Frauen und Männer, aber Wahnsinn strahlt und leuchtet nicht mit sichtbarem Licht. Das ist etwas gänzlich anderes.« Beim Sprechen kam sie wieder zu sich, faßte sich und fügte hinzu: »Sag, tut es weh? Wie konnte das geschehen?«
    »Ich dachte, ich wäre gestorben und daß der Tod schön sei. Aber eine Stimme sagte, ich hätte noch zu tun und müsse zurückkehren. Und so strömte ich in meinen Leib zurück und blickte mich um und sah, daß alle Dinge, auch die häßlichsten, in diesem Licht unbeschreiblich schön geworden waren. Ich bin wiedergeboren und wandle durch eine wiedergeborene Welt.« Die alte Frau sah mich schlau an und legte den Kopf schief, als dächte sie über etwas nach.
    »Du kannst nicht leuchtend umherspazieren. Sowas tut man nicht. Ich weiß gar nicht, wie du dir etwas zum Leben verdienen willst, wenn du so aussiehst.«
    »Ich weiß gar nicht, wie ich leben soll, Hilde, weil ich nicht weiß, warum ich lebe. Ob mir das irgendwie gezeigt wird?«
    »Wohl möglich, wohl möglich«, murmelte Mutter Hilde und nickte ganz gedankenversunken. Dann musterte sie mich eingehend, wahrlich, sehr eingehend.
    »Mir ist da etwas eingefallen«, sagte sie. »Ein Versuch. Siehst du meine Hände hier?« Sie hob Hände, die an jedem Fingergelenk Knoten aufwiesen. »Seit langem ist es meine größte Angst gewesen, daß der Schmerz, der mir die Hände knotig macht, sie eines Tages auch völlig untauglich macht. Du weißt, daß ich nicht mehr spinnen kann. Doch an dem Tag, an dem ich keine Kräuter mehr pflücken oder den Kopf eines Kindleins mehr holen kann, an dem Tag fange ich an, Hungers zu sterben.« Sie kam mit ausgestreckten Händen auf mich zu.
    »Berühre meine Hände, Margaret. Berühre meine Hände und bete, daß sie gesund werden.« Ich streckte die Hände aus und nahm ihre in meine. Im Geist sprach ich ein Gebet, stellte mir einen Augenblick das Bild weicher, geschmeidiger, gesunder, junger Hände vor und schloß die Augen. Ich spürte, wie eine sonderbare Energie, die nicht wirklich ich war, durch mich hindurchfloß, gefolgt von einem Gefühl des Leerwerdens, so als ob meine Kraft ausflösse, während das Leuchten im Raum nachließ.
    »Aber, Margaret, wie wunderbar! Sieh nur meine Hände, wie sie sich bewegen! Keine Schmerzen mehr, sie

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