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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Grund. Die schwere Kirchentür war nicht verschlossen, und als ich sie mit der freien Hand aufstieß, öffnete sie sich langsam. Es war nur eine armselige Dorfkirche, nicht so großartig wie die herrliche Abteikirche von St. Matthew's. Bilder vom Sündenfall, der Sintflut und der Kreuzigung waren in einst leuchtenden, mittlerweile durch den Rauch vieler Kerzen nachgedunkelten Farben auf die Wände gemalt. Oberhalb des Altars war das Jüngste Gericht abgebildet, die Seligen in Weiß gekleidet fuhren auf der linken Seite auf; die Verdammten wurden nackt in eine Feuergrube voller Dämonen geworfen. Das große Kruzifix befand sich noch an seinem Platz, ebenso die Altartücher, doch die Kerzen waren herabgebrannt, und das Wachs war in großen Lachen rings um sie erstarrt. Ich fragte mich, ob der Priester allein im Angesicht des Todes wohl gerade die Messe hatte lesen wollen, als es auch ihn traf. Oder ob er vielleicht feige gehandelt und einfach fortgelaufen war? Ich muß Mutter Hilde fragen, was aus ihm geworden ist, dachte ich zerstreut. Die stillen Gesichter der hölzernen Heiligen gaben keine Auskunft.
    Nie bin ich mir so vollkommen allein vorgekommen. Es war eine Art Erschöpfung, so als hätte ich mich gänzlich ausgeweint. Alles, was ich einmal für mein Ich gehalten hatte, alles war dahin. Ich war verheiratet und doch nicht verheiratet; war Mutter und doch keine Mutter; am Leben und doch nicht wirklich lebendig. Eine Fremde stand da, die überhaupt niemand war, eine Person ohne Heim, Vergangenheit oder Zukunft. Dieses Mal konnte ich nicht einmal zur Muttergottes und den Heiligen beten. Selbst Gott war fort. Mein Geist war so hohl und leer wie ein offenes Grab.
    Und da merkte ich auf einmal, daß sich etwas überaus Eigentümliches mit dem Licht im Raum tat. In der unbeleuchteten und somit von Natur aus dämmrigen Kirche kam etwas sehr Seltsames, gleichsam ein Lichtschleier von der hohen, gewölbten Decke herabgeschwebt. Ich starrte wie gebannt zu ihm hoch, während er sich allmählich herabsenkte. Mein Mund öffnete sich, und als sich auch meine linke Hand jählings öffnete, da rollten mir die Birnen aus der Schürze zu Boden und verströmten einen süßen, fauligen Duft. Als sich der Schleier zu Boden senken wollte, fiel ich mitten in der leeren Kirche auf die Knie. Ich faltete die Hände und mochte den staunenden Blick nicht von dem wechselnden Licht im Schleier abwenden. Große, leuchtende, lichte Formen, die manchmal dichter und gelber als das sanfte, goldene Licht des Schleiers waren, tröpfelten darin herab wie Honig, der über den Rand eines Kruges fließt.
    Während ich zusah, wie die Lichtmuster sich bewegten, herabrieselten und mich umflossen, ergriff mich eine unbeschreibliche Ekstase. Seitdem habe ich wieder und wieder versucht, Worte dafür zu finden, doch dergleichen vermag keine menschliche Zunge zu beschreiben. Meine Seele wurde emporgehoben und wollte sich dort oben im Universum verströmen. Oder vielmehr, das Universum und meine Seele verschmolzen so, daß ich nicht mehr zu sagen wußte, wo das eine begann und die andere aufhörte. Ich blickte aus einer Höhe von tausend Meilen herab und sah meine armselige sterbliche Hülle knien und zittern. Sollte ich zurückkehren? Wozu die Mühe? Eine tiefe Stimme rings um mich, die in meiner Seele und um sie herum hochstieg, sagte:
    »Geh zurück, du hast noch zu tun.«
    »O nein, nein!« hielt meine Seele dagegen. Nie wieder so eingezwängt, so gedrückt sein! Aber ich fühlte, wie es mich nach unten saugte und zog, und schon blickte ich wieder aus eigenen Augenhöhlen in den verblassenden, schimmernden Lichtschleier. Ich weiß nicht, wie lange ich dort verweilte, aber irgendwie sagte mir mein Verstand, daß ich nach Haus gehen müßte. Hildes Birnen lagen am Boden. Ich sammelte sie auf, ohne zu wissen, was ich tat, denn mein Geist fühlte sich schwindlig und trunken an.
    Als ich die Kirchentür öffnete, traf mich das Licht des Spätnachmittags wie ein Schlag, und ich trat hinaus in eine Welt, die mir so wehtat, daß ich zurückwich. Doch irgendetwas, etwas sehr Eigenartiges war mit dem, was sich meinem Auge bot, geschehen. Überall war Licht, alles war Licht! Ein Baumstamm loderte gleichsam wie eine große, orangefarbene Flamme und stieg von der Erde auf, während seine Blätter zu einem glitzernden, orangefarbenen Funkenregen geworden waren. Das Gras glühte in Phosphorgrün. Vor mir stob ein Schwarm Sperlinge auf wie ein halb Dutzend leuchtender

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