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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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werden zu erklären, wie sie hierhergekommen ist?« Er war näher herangetreten und hielt die Fackel hoch, um mein Gesicht prüfend betrachten zu können.
    »Ei, Ihr seid ja jünger, als ich dachte! Ja, ja«, setzte er betrübt hinzu, »sie war auch gar nicht so alt. Nur zwanzig Lenze. Ein bitteres Ende für ein hübsches Dorfmädchen, das ihrem Liebsten zu den Soldaten folgte.«
    »War sie denn hübsch?«
    »O ja, sehr hübsch, als sie hier in der Garnison anfing. Das war vor ungefähr drei Jahren. Natürlich hatte sie keinen Penny. Mein Gesicht ist mein Vermögen, sagte sie dann wohl. Vermutlich wollte sie ihn heiraten, aber er bekam sie satt und wollte sie nicht mehr, und das war's dann.« Er blickte mich in der Dunkelheit grimmig an. »Du kannst von Glück sagen, Mädchen – du hast die Geschicklichkeit deiner Hände zu verkaufen, nicht deine Küsse und deinen Leib! Bleib dabei! Du bist noch jung genug, um zu heiraten und dir – das da zu ersparen.« Und er hielt die Fackel an der Tür hoch, daß sie den Schauplatz da drinnen beleuchtete.
    Heirat, dachte ich, pfui. Durch eine Heirat errettet werden? Dabei verkauft man seinen Leib doch nur auf andere Art. Gott steh mir bei, bloß keine Ehe. Er meint es nur gut, da will ich ihm nicht unhöflich kommen. Und so nickte ich ergeben, wie er es wohl erwartete.
    Mittlerweile hatte Hilde sich gefaßt, nicht jedoch ohne mir einen durchdringenden Blick zuzuwerfen, und stand nun neben uns auf der Schwelle.
    »Sir, ob Ihr bitte den Priester für das Begräbnis bestellen würdet? Es schickt sich für uns nicht, daß wir etwas mit der da zu tun haben«, sagte Hilde, und der Wachtmeister nickte stumm.
    Und er hielt Wort, aber ich weiß nicht, wie er es schaffte, Belottes Anwesenheit dort unten zu erklären, da sie doch gegen den Befehl des Herrn war. Bestraft wurde jedenfalls niemand. Da ich ein wenig mitbekommen hatte, wie man das dort deichselte, konnte ich mir ausmalen, daß man mit ein paar schmutzigen Witzen und ein paar rüden Lachern alle herumbekam, nur den Priester nicht. Wie es sich dann herausstellte, weigerte sich Vater Denys, wegen ihrer Sünden für sie das Totenamt zu lesen. Man trug also Belotte und ihr Kindchen ohne weitere Umstände zum Tor hinaus und begrub sie in ungeweihter Erde. Kein Leidtragender ging mit, und abgesehen von mir, sprach niemand ein Gebet. Nur ich wußte, daß ich Belotte viele Gebete schuldete, denn sie hatte mir meine verborgenen Sünden gezeigt, meine Eitelkeit, meinen Neid und meine Feigheit. Ich gelobte ihr, mich zu bessern.

    Das Tageslicht schwand dahin, als Bruder Gregory Federn und Tintenhorn zusammenpackte. Erschöpft blickte er Margaret an und massierte seine Hand mit Daumen und Fingern der Linken.
    »Ihr seid abgespannt, und es ist spät geworden, Bruder Gregory. Mögt Ihr nicht zum Abendessen bleiben? Das ist bei uns keine große Angelegenheit, mein Mann hat nämlich Gicht. Aber er unterhält sich bei Tisch gern mit einem gelehrten Mann, Ihr seid also herzlich eingeladen.«
    Ein Abendessen in ungewohnt behaglicher Umgebung, das kam Bruder Gregory gut zupaß. Bei dem Gedanken an ein bißchen ernste Unterhaltung von Mann zu Mann verrauchte auch der letzte Anflug von Verärgerung. Seit er für Margaret schrieb, bekam er überall in der Stadt zu hören, daß Roger Kendall ebenso weitgereist wie vermögend und ein prachtvoller raconteur mit einem unerschöpflichen Vorrat an ausgefallenen Geschichten aus fernen Ländern sein sollte. Eines Tages hatten Bruder Gregorys Freunde ihm zugesetzt, er solle herausfinden, ob an einer dick aufgetragenen Geschichte über Kendall nicht doch ein Körnchen Wahrheit sei, und das hatte die schlummernde Schlange von Bruder Gregorys Neugier geweckt.
    Und obwohl ihm die Neugier keine Ruhe gelassen hatte, war es Bruder Gregory bislang nur gelungen, einen kurzen Blick auf den berühmten Handelsherrn zu erhaschen, als er ihn nämlich wegen des Leseunterrichts gefragt hatte. Kendall hatte in seinem Kontor, das von der großen Diele abging, am Fenster gestanden und eine Länge des gerade eingetroffenen Purpurstoffes geprüft, den zwei seiner Gesellen für ihn ausgebreitet hatten, neben ihm ein Schreiber mit Tafel und Griffel in der Hand. Durch das Fenster fiel ein Lichtstrahl und spielte auf den tiefroten Falten, und er sah, wie Kendall sich leicht vorbeugte, um den satten Duft der Farbe einzuziehen, der aus dem Material aufstieg, und es zwischen Daumen und Zeigefinger rieb, um dessen ›Griff‹ zu prüfen.

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