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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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metallene Jalousie hochgeschoben hatte, sein Lokal betrat und die trübe Beleuchtung einschaltete. Oriol sah nach allen Seiten. Weder Soldaten noch die Polizei hatten den Platz im Sturm genommen. Er betrachtete seine bebenden Hände und ließ Brunnenwasser darüber laufen. Venturaalias Leutnant Marcó hatte ihm eingeschärft, sich nicht vor Weihnachten hier blicken zu lassen.
    »Und warum habt ihr mir dann die Adresse gegeben?«
    »Weil du ein Anrecht darauf hast.«
    Ende August hatte er sich dem Befehl widersetzt. Ende August war nicht Weihnachten, aber man kann von niemandem Unmögliches verlangen.
    Er setzte sich auf eine Bank. Allmählich tauchten vereinzelte Passanten aus der Dämmerung auf. Haus Nummer drei war ein ziemlich altes, vierstöckiges Gebäude mit einer schlichten dunklen Tür. In einer der Wohnungen lebten Rosa und seine Tochter, das heißt Du, die Du gerade diese Zeilen liest. Er mußte warten, bis die richtige Zeit war, zu klopfen und zu sagen, Rosa, Liebste, ich bin nicht so, wie du denkst: Ich bin ein Schuft, weil ich drauf und dran bin, mich in eine andere Frau zu verlieben, ja, aber ich bin kein Faschist. Ich bin ein Feigling, denn ich habe große Angst; aber ich bin nicht unwürdig, ich habe deine Verachtung nicht verdient, denn wegen dir und Ventureta bin ich beim Maquis; mein Leben ist in Gefahr, aber das alles kann ich dir nicht sagen, aus Gründen der Sicherheit, die ich mißachte, weil ich den Gedanken nicht ertrage, daß du mich haßt und meine Tochter mich verachtet. Sie ist zwar erst acht Monate alt, aber sie lernt schon, wie es ist, sich für einen Vater zu schämen, der ein Faschist und Freund von Kindermördern ist. All das möchte ich dir erklären. All das wollte ich Deiner Mutter sagen, meine namenlose Tochter. Ihn schauderte. Er blickte in den Himmel, weil ihn ein Taubenschiß getroffen hatte, nein, es war ein Tropfen gewesen. Während er vor sich hingestarrt hatte, hatte sich der Himmel zugezogen, als wollte er über dem Platz seinen gesamten Zorn auf diesen ungehorsamen Maquisarden ergießen, der sich in der Nacht aus Torena davongestohlen hatte. Bis zur Station von La Pobla war er zwischen zukünftigen Grabplatten und Pflastersteinen auf dem Lastwagen von Pere Serrallac mitgefahren, der mit dem Gedanken spielte, seinen Sohn doch eine Zeitlang aufdas Seminar in La Seu zu schicken. Oriol hatte behauptet, er wolle eine arme Tante besuchen, die plötzlich erkrankt war, er wolle die Ferien nutzen, um mal etwas anderes zu sehen. Zu Valentí Targa hatte er gesagt: »Nein, ich will in den Ferien nicht weg aus Torena.Wo kann es schöner sein als in Torena?« Aber so war nun mal das Leben, er mußte seine Tante noch einmal besuchen, bevor sie starb. Allerdings hatte er nicht erwähnt, daß die Tante nicht in Barcelona lebte, sondern in Feixes und sich trotz ihrer siebenundsiebzig Jahre und diverser Zipperlein bester Gesundheit erfreute. Es begann zu regnen, große, vereinzelte Tropfen, die auf die Erde aufschlugen und zerplatzten. Er sah das trübe Licht der Bar und überlegte es sich nicht zweimal.
    »Was darf ’s sein?«
    »Ein Kaffee mit Schuß.«
    Er deutete fragend auf einen Stuhl vor einem schmutzigen, schrundigen Marmortischchen, und der Wirt nickte zustimmend. Kaum hatte Oriol Platz genommen, da wurde aus den einzelnen Tropfen ein dichter, lärmender Platzregen, der alles einhüllte. Innerhalb kürzester Zeit war die Fassade von Haus Nummer drei hinter dem Regenvorhang verschwunden.
    »So ein Mist«, schimpfte ein Mann, der von draußen hereinkam. »Gerade eben hat man sogar noch den Mond gesehen.« Er schüttelte sich wie ein Hund.
    Wenn es nicht geregnet hätte, hätte er es gar nicht bemerkt. Der graue Mann hatte sich unter einer gefalteten Plane zusammengekauert und ließ den Regen stoisch über sich ergehen. Zuerst wunderte er sich, daß der Mann sich nicht woanders unterstellte, daß er scheinbar unbedingt naß werden wollte. Dann verstand er. Diese Seite der Straße, nahe der Einmündung zum Platz, war die einzige Stelle, von der aus man ungehinderte Sicht auf die Bar hatte.
    Er trank seinen Kaffee mit Schuß und versuchte, gelassen zu bleiben. Zumindest saß er im Trockenen, in der säuerlichen Luft der Bar, die schwer war von abgestandenem Zigarettenrauch. Er legte die Hände auf die kalteMarmorplatte, die von der gleichen Farbe war wie der Grabstein, den Serrallac bald für ihn fertigen und in den er einmeißeln würde, was für immer in Erinnerung bleiben sollte,

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