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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Abgrund zwischen ihnen beiden zu groß war? Daß sie Angst hatte, allein zum Arzt zu gehen? Was hat sie, was ich nicht habe? Wer ist sie? Kenne ich sie? Nein, es war besser, allein nach Barcelona zu fahren und der Angst allein entgegenzutreten.
    Als Jordi hinausging, wußte sie: Sobald sie ins Auto gestiegen wäre, um offiziell für ein paar Tage nach Barcelona zu fahren und sich dort von der Frauenärztin untersuchen zu lassen, würde Jordi sich befreit fühlen und den Hunger nach seiner unbekannten Geliebten stillen. Sie wußte es, war sich ganz sicher, konnte aber nichts dagegen tun. Und in gewisser Weise betrog auch sie ihn, denn kaum war sie in Barcelona angekommen, ging sie nicht etwa ihre Familie besuchen, sondern zum Einwohnermeldeamt, um ein Mädchen zu suchen, das 1944 geboren war, wahrscheinlich den Nachnamen Fontelles trug und dessen Mutter Rosa geheißen hatte.Wennes überhaupt in Barcelona geboren war. Nachdem sie sich zwei Stunden lang vergebens durch Datenberge gearbeitet hatte, kam sie auf die Idee, einer anderen, unsicheren Spur nachzugehen, nämlich nach Doktor Aranda zu suchen, der in Oriols Heften erwähnt wurde und anscheinend als Lungenfacharzt in der Tuberkuloseklinik praktiziert hatte. Dort wurde sie zunächst abgewiesen: ein Arzt aus den vierziger Jahren? Wo dachte sie hin! Mit hängendem Kopf wandte sie sich ab. Wahrscheinlich hatten sie recht, was mischte sie sich in das Leben anderer Leute ein, ich bin weder Historikerin noch Detektivin, noch mit irgendeinem der Betroffenen verwandt. Ihr war nicht bewußt, daß sie allein deshalb in die Geschichte verstrickt war, weil sie Oriols Hefte gelesen hatte. Während sie auf dem Weg zum Ausgang über all das nachdachte, kam eine Krankenschwester, die Tinas Gespräch mit ihrer Kollegin mitverfolgt hatte, hinter dem Empfang hervor, nahm sie am Arm und sagte, ihr sei eine Idee gekommen.Auf dem Dachboden gab es sauber verschnürte und geordnete Pakete mit Registern, die leicht einzusehen waren. Und als ihre Hände schon schwarz waren vom Staub der brüchigen und leicht modrig riechenden Papiere, entdeckte sie auf einer Liste der Ärzte, die von zweiundvierzig bis neunundvierzig hier praktiziert hatten, den Namen von Doktor Josep Aranda, und nun wußte Tina, daß sie, wenn damals alles ordnungsgemäß verlaufen war, auch die Namen seiner Patienten finden würde. In den Aufnahmelisten aus jenen Jahren fand sie Dutzende von Frauennamen, darunter auch einige Rosas, doch keine von ihnen war im richtigen Alter. Sie hatte das Gefühl, ihre Zeit zu vergeuden, doch dann kam sie auf die Idee, die Akte von Doktor Aranda einzusehen. Er hatte auch in der Thoraxklinik in Feixes gearbeitet. Unverdrossen ließ Tina alles stehen und liegen und verfolgte die neue Spur, obwohl sie wußte, daß noch am selben Nachmittag der Besuch bei der Gynäkologin anstand, auf den sie sich vorbereiten mußte, und danach das Abendessen mit ihrer Mutter, auf das sie sich noch besser vorbereiten mußte. Zwei Stunden späterwar sie im Archiv der Thoraxklinik von Feixes und starrte erstaunt auf die vier Karteikarten der Frauen mit Kind. Nur eine von ihnen hieß Rosa. Rosa Dachs. Aber sie hatte einen Sohn, keine Tochter.Wieder eine falsche Spur.
    Um sieben dunkelte es schon. Die Frau hatte sich durch ihren Husten angekündigt und saß nun in dem hohen, einsamen Wartesaal, das Kind auf dem Arm. Schwester Renata kam wieder herein: »Doktor Aranda ist bis in die Nacht hinein beschäftigt.«
    Bevor die Frau antworten konnte, kippte sie einfach um. Noch in der Ohnmacht umschlang sie instinktiv das Kind, um es vor dem Aufprall zu schützen. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem großen Saal in einem Bett, das von den anderen Betten durch ein aufgespanntes Leintuch getrennt war. Schwester Renatas junges Gesicht beugte sich über sie, und wie aus weiter Ferne hörte sie ihre Stimme: »Ja, Herr Doktor, sie ist wieder bei Bewußtsein.« Dann schlief sie ein, bevor sie nach ihrem Sohn fragen konnte. Sie bekam nicht mit, wie Doktor Aranda die Stirn in Falten zog und sagte: »Das sieht sehr, sehr häßlich aus, ich weiß nicht, ob wir da noch was tun können.Wieso ist sie jetzt erst gekommen?«
    Niemand konnte ihm sagen, daß Rosa nach ihrer Flucht aus Torena nicht nach Hause zurückgekehrt war und keine Verwandten aufgesucht hatte, damit ihr Mann sie nicht finden konnte. Sie war in einer einfachen Pension an der Placeta de la Font in Poble-sec untergekommen, und dort hatte sie mit Hilfe einer

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