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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ich den Tod und die Abwesenheit meines Vaters und meines Bruders beweint habe. Viele Jahre lang habe ich im verborgenen geweint, weil niemand jemals von meinem Kummer erfahren sollte. Ich habe unerbittlich geweint und gearbeitet, bis ich eines Tages gesagt habe, »Es reicht«, und das Taschentuch weggesteckt habe. Ich fühlte mich einsam, vor allem wegen der merkwürdigen Ansichten, die mein Mann von der Institution der Ehe hegte. Als Santiago starb, fand ich, es sei genug, ich hätte auch ein Recht auf … Sie verstehen schon, Monsignore. Und so habe ich mir einen nicht besonders hellen, aber kräftigen jungen Burschen zu meiner privaten und geschäftlichen Verfügung gesucht. Ich habe nicht von ihm verlangt, daß er mich liebt, sondern daß er mich vögelt. Ich habe ihn nie geliebt, obwohl der Schatten der Eifersucht zwischen uns stand. Ich verlange nicht, daß Sie mich verstehen, Monsignore, aber mein heimliches Verhältnis mit Quique Esteve, diesem Schuft, hat angedauert, bis es öffentlich wurde. Und nun habe ich Oriol gelobt, daß es in meinem Leben keine Männer mehr geben wird, und ich gedenke, das Gelöbnis zu halten: Ich kann mir nicht erlauben, die Kontrolle zu verlieren. Und noch etwas bewegt mich … Sehen Sie, Monsignore, im Grunde glaube ich, daß ich es tue, um mich an Gott zu rächen.
    »Mich bewegt die Treue an das Andenken eines Mannes, der nicht gezögert hat, sein Leben für die Kirche und die Unversehrtheit des Heiligen Sakraments der Eucharistie zu opfern, Monsignore.« Sie senkte, salbungsvoll wie ihr Gegenüber, den Blick und beharrte: »Nur darum, Monsignore.«

38
    Vielleicht hilft Dir dies, Dich ein wenig an mich zu erinnern, meine Tochter. Tina tippte Oriols Worte getreulich ab. Auf diesen Satz folgte die Zeichnung eines Mannes mit vermutlich hellen Augen und einem unscheinbaren jungen Gesicht mit sanften, ebenmäßigen, nichtssagenden Zügen. Sie betrachtete es lange, versuchte, sich Oriol vorzustellen, wie er vor einem schmutzigen Spiegel seinen eigenen Kummer abbildete. Es war ein Selbstbildnis seines Schmerzes, nachdem Rosa ihn enttäuscht und angewidert verlassen hatte und er unverhofft zum Helden geworden war und ihr nicht erklären konnte, ich bin kein Feigling, Rosa. Er fühlte sich noch einsamer mit seinem Selbstbildnis, das er vor dem fleckigen, verkrusteten Spiegel auf der Schultoilette angefertigt hatte. Während er es zeichnete, dachte er, wenn nur meine Wünsche stärker wären als die Wirklichkeit, dann könnte ich Rosa diese Seiten zukommen lassen, wo auch immer sie sein mag, und sie würde sich einverstanden erklären, nicht hierher zurückzukommen, bis die Gefahr vorüber ist. Wenn nur meine Wachsamkeit stärker wäre als meine Müdigkeit, denn in ein paar Tagen werden wir frei sein oder tot, das liegt nicht in meiner Hand. In dieser Ungewißheit lebe ich, geliebte Rosa, die du mich haßt, weil du schon wußtest, was in mir vorging, als ich Elisenda porträtierte. Und Du, meine Tochter, sollst wissen, daß in einer Woche entweder alles vorbei ist oder … Rasch beendete er das Selbstbildnis. Sein Gesicht wirkte desillusioniert, wie erloschen.Vielleicht sah er einfach so aus. Er mußte kaum etwas korrigieren, als hätte er sich schon unzählige Male gezeichnet. Und als er fertig war, dachte er, es könne eine gute Erinnerung für seine Tochter sein, falls das Schicksal entschieden hatte, daß dies das Endewar. Er dachte jetzt jeden Tag an den Tod als einen der vielen Umstände, die sich vor Mitternacht ereignen konnten. Es tut mir leid, daß ich dich verletzt habe, Rosa.
    Tina schlug das Heft zu, als sie die Wohnungstür aufgehen hörte. Sie verbarg Oriols geheime Hefte vor Jordi, wie dieser seine unbekannte Geliebte vor ihr verbarg. Das war ihre vorläufige Rache, bis sie stark genug wäre, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er unehrlich war, er, der aufrichtig sein sollte.
    »Was machst du da?«
    Soll ich ihn ignorieren? Zum Teufel jagen? Soll ich sagen, Jordi, wir müssen reden, ich weiß, daß du eine Geliebte hast? Soll ich ihm sagen, wahrscheinlich hast du mich krank gemacht?
    »Nichts Besonderes, ich sehe Material durch. Ich will, daß alles erledigt ist, wenn ich wiederkomme.«
    »Soll ich dich wirklich nicht begleiten?«
    »Nein, wirklich nicht …«
    »Ruf mich an, wenn du etwas weißt.«
    Tina antwortete nicht. Was sollte sie schon sagen. Daß es ihr leid tat, daß er sie nicht zum Arzt begleitete? Daß es ihr leid getan hätte, wenn er sie begleitete, weil der

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