Die Stimmen des Flusses
von den Pensionswirten eilig herbeigerufenen Hebamme auch ihren Sohn geboren. Der Junge sah gesund und kräftig aus, und sie nannte ihn Joan und meldete ihn als uneheliches Kind unter dem Namen Joan Dachs an. Dann schrieb sie einen Brief an Oriol: »Oriol, ich muß Dir wohl mitteilen, daß Du eine Tochter hast. Sie ist wohlauf. Ich werde sie niemals zu Dir bringen, weil ich nicht will, daß sie erfährt, daß ihr Vater ein Faschist und ein Feigling ist.Versuch nicht, mich ausfindig zu machen oder ausfindig machen zu lassen: Ich bin nicht bei Deiner Tante, meine Tochter undich kommen schon alleine zurecht. Mein Husten ist weg, bestimmt hast Du mich krank gemacht. Auf Nimmerwiedersehen.«
Hustend setzte sie ihren Namen unter den Brief, mit dem sie Oriol in die Irre führen wollte, damit er sie nicht fand. Wie grausam, dachte Tina. Aber ich hätte das gleiche getan. Vielleicht. Wer weiß. Ich bin ja noch nicht einmal fähig, Jordi ins Gesicht zu sagen, daß er ein Schweinehund ist – was hätte ich dann an Rosas Stelle getan? Da Rosa nicht zur Post gehen und das Geld abholen wollte, das Oriol ihr sicherlich schickte, verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt damit, daß sie Strümpfe stopfte, Ellbogen und Knie flickte. Sie versuchte zu vergessen, daß es einmal glücklichere Zeiten gegeben hatte, als wir dachten, alle Menschen wären im Grunde gut. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß der Husten und das Fieber sich so hartnäckig hielten und immer schlimmer wurden, und so kratzte sie schließlich ihr letztes Geld für die lange Reise nach Feixes zusammen, wo Doktor Aranda sie gründlich untersuchen und sicher wieder gesund machen würde. Doch anstatt sie wieder gesund zu machen, zog Doktor Aranda die Stirn in Falten – er war erschöpft, weil er schon lange auf den Beinen war – und wiederholte: »Das sieht sehr böse aus. Und warum hat sie nach mir gefragt?«
»Sie sagte, sie sei mal Ihre Patientin gewesen. Erinnern Sie sich nicht?«
»Wenn ich mich an alle Leute erinnern wollte … Wie geht es dem Jungen?«
Dem Jungen ging es gut, er schien sich nicht darum zu scheren, daß sein Vater ein Faschist und seine Mutter krank war, daß beide zum Tode verurteilt waren und die Urteilsvollstreckung unmittelbar bevorstand. Joan hatte Oriols und Rosas positive Eigenschaften geerbt; er lächelte und nuckelte am Daumen.
Der Arzt prüfte das Kind auf Herz und Nieren: Es war gesund. Er legte es wieder in Schwester Renatas Arme unddachte, daß er eigentlich lieber diese himmlische junge Nonne, der er die Leitung dieses Stockwerks übertragen hatte, auf Herz und Nieren prüfen würde. Sie verströmte einen Duft nach Jugend, der ihm den Kopf verdrehte, und manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich vorstellte, sie läge nackt in seinen Armen, lächelte ihn an und sagte: »Ich liebe dich, Doktor.« Schwester Renata trug das Kind fort. Sie sah den Arzt mit so glänzenden Augen an, daß er dachte, sie hätte seine Gedanken erraten, und er wurde rot. Er kam nicht darauf, daß ihre Augen vor Rührung glänzten, als sie sah, daß das Kind allein bleiben würde, wenn seine Mutter die Nacht nicht überlebte.
Rosa wachte ein paarmal auf, sagte, daß ihr Kind Joanet heiße, und rückte auf Schwester Renatas sanftes Drängen zuletzt damit heraus, daß der Vater des Kindes Oriol Fontelles hieß und weit weg wohnte.
»Und wenn es am Ende der Welt ist: Sag uns, wo er wohnt, und wir holen ihn.«
»Nein. Ich will nicht, daß er das Kind bekommt.«
»Warum?«
Ein Hustenanfall. Schwester Renata streichelte ihr unablässig die Hand und wartete geduldig, bis sie sich beruhigt hatte. Dann sagte sie einschmeichelnd: »Komm schon, Rosa … Warum soll er das Kind nicht haben, wenn es doch seines ist?«
»Weil er … Ich will nicht, daß mein Kind unter seinem Einfluß aufwächst.«
»Warum nicht?«
»Wir haben unterschiedliche Ansichten. Sehr unterschiedliche.«
Schwester Renata schwieg. Soso. Dann fragte sie mißtrauisch: »Geht es um Politik?«
Rosa richtete sich mühsam im Bett auf: »Schwör mir, daß du, wenn ich sterbe, alles tun wirst, was in deiner Macht steht, damit der Vater dieses Jungen ihn niemals findet.«
»Ich schwöre es«, sagte die meineidige Nonne.
»Danke.« Kraftlos fiel Rosa auf ihr Kissen zurück. Das Fieber verschleierte ihren Blick.
»Ich bin bei dir, Rosa.«
Sie blieb bei ihr sitzen, bis Rosa völlig erschöpft einschlief. Dann durchwühlte sie ihre Tasche nach irgendeinem Hinweis, wartete, bis sie
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