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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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abgelöst wurde, und anstatt schlafen zu gehen, ging sie in ihr Dienstzimmer, wog die Schwere der Sünden gegeneinander ab, beschloß, daß eine Lüge weniger schwer wog, als das Kind seinem Schicksal zu überlassen, warf einen Blick zu Rosa hinüber, die mit ihren schwachen Kräften um ihres Kindes willen ums Überleben rang, und bat um eine Verbindung nach Torena. In den Händen hielt sie die Geschäftskarte eines gewissen Pere Serrallac, Steinmetz aus Sort mit Wohnsitz in Torena. In Torena gab es nur zehn Telefonanschlüsse. Es war sehr schwierig durchzukommen; sie hatte nach diesem Pere Serrallac gefragt, aber man teilte ihr mit, er habe kein Telefon, man werde ihn holen. Dann fragte sie direkt nach Oriol Fontelles, und Cinteta, die Telefonistin, völlig außer sich wegen der Ereignisse in Torena, fragte »Der Lehrer? Meinen Sie den Lehrer?« Die wortbrüchige Nonne schlug unbewußt die Augen nieder – ein Blick, den der Doktor hätte sehen sollen – und fragte: »Oriol Fontelles ist Lehrer?« Und dann, nach ein paar Sekunden: »Ich muß ihn wegen einer ernsten Angelegenheit sprechen, es ist dringend.«
    Cinteta, den Tränen nahe, fand den Lehrer nicht in der Schule, und als sie Licht in der Kirche sah, dachte sie, daß vielleicht der Herr Pfarrer … Schwester Renata mußte lange warten. Aus der Leitung drangen merkwürdige Geräusche, dann fragte eine strenge weibliche Stimme: »Mit wem spreche ich?« Schwester Renata erklärte, sie müsse sich unbedingt mit Senyor Oriol Fontelles in Verbindung setzen. Elisenda zögerte. Sie war kurz davor aufzulegen, aber ihr Gespür dafür, wann etwas wichtig war, hielt sie zurück, obwohl sie im Augenblick weiß Gott anderes zu tun hatte. Schwester Renata bestand erneut darauf, mit Senyor Oriol Fontelles persönlich zu sprechen.
    »Er kann nicht … Nein … Es ist unmöglich.« Elisenda klang erschöpft.
    »Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.«
    »Senyor Oriol Fontelles ist soeben verstorben.« Ihre Stimme war jetzt kalt.
    »Entschuldigen Sie. Ich …«
    Ungeachtet dessen, was sie gerade durchmachte, horchte Elisenda auf: »Was wollten Sie von ihm?«
    »Nun, ich … seine … seine Frau liegt im Sterben.«
    »Rosa?«
    »Ja. Ich habe seinen Sohn hier.«
    »Oriol Fontelles hat eine Tochter.«
    »Einen Sohn.«
    Angesichts der Bedeutung dieser Nachricht tat Elisenda so, als ob sie die Schüsse auf der Straße nicht hörte.
    »Ich bin eine Freundin der Familie. Ich werde mich persönlich um das Kind kümmern. Sagen Sie, wo Sie sind, und ich schicke meine Rechtsanwälte vorbei.«
    Schwester Renata, die Begehrte, hängte auf, nachdem die eisige Stimme noch absolute Diskretion von ihr verlangt hatte. Vor allem das Wort »Rechtsanwälte« und der autoritäre Tonfall beunruhigten sie. Sie dachte, daß sie sich vielleicht doch zuvor mit ihren Vorgesetzten hätte absprechen sollen, daß sie die Lüge am Krankenbett würde beichten müssen und daß sie der armen Frau, falls diese überlebte, kaum in die Augen würde sehen können. Sie dachte nicht daran, daß der Doktor sich wünschte, sie anzusehen und auf Herz und Nieren zu prüfen, und sie dachte nicht daran, daß sie mit ihren einundzwanzig Jahren, drei Jahre, nachdem sie dem Orden beigetreten war, um den Bedürftigen zu helfen, allein zum Schicksal dieses Kindes geworden war.
    Als Tina das Krankenhaus verließ, war es bereits dunkel. Sie grübelte darüber nach, daß Rosa nie die ganze Wahrheit über ihren Mann erfahren hatte, daß er sie mit einer Geliebten betrogen, aber auch einen heimlichen Krieg geführt hatte. Joan. Die namenlose Tochter heißt Joan, und indiesem Krankenhaus verliert sich seine Spur so vollständig, als wäre das Kind an der Seite der armen Rosa gestorben. Die Entdeckungen hatten sie so aufgewühlt, daß sie bei der Untersuchung völlig verspannt war und die – ungewöhnlich stille – Gynäkologin ihr weh tat. Dann saßen sie einander gegenüber, die Gynäkologin starrte eine Minute lang ins Leere, und Tinas Angst wuchs.
    »Nun reden Sie schon, Frau Doktor.«
    Die Ärztin sah sie an, lächelte kurz und zaghaft, nahm die Papiere, die vor ihr lagen, und hielt sie schützend vor sich.
    »Wir müssen schneiden«, sagte sie schließlich fast unhörbar.
    Mein ganzes Leben habe ich diesen Augenblick gefürchtet, und jetzt ist er da. Jetzt kommt eine aggressive Chemotherapie, ich nehme ab, werde kahl und sterbe.
    »Hat er schon gestreut?«
    »Es gibt keine Metastasen, das ist die gute Nachricht. Aber wir

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