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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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gehaßt hatten.Wie unzählige Minister in Madrid, dessen war er sich ganz sicher. Er packte Senyora Elisendas Handgelenke, und sie erbleichte, denn noch nie in ihrem ganzen Leben hatte ein Bediensteter sie so angefaßt. Sie hatten sie nicht einmal berührt. Sie wollte schreien, doch die Ungläubigkeit verschloß ihr den Mund. Jacinto Mas umarmte sie, zog sie mit Gewalt an seine Brust und suchte dann ihre Lippen mit den seinen. Der Ohnmacht nahe, wehrte sie sich gegen diesen unerträglichen Angriff eines Bediensteten, doch es gelang ihm, ihre Röckezu heben und ihre Schenkel zu berühren, und er dachte bei sich, endlich, endlich.
    »Mach’s mit mir.«
    »Bist du denn …«
    »Nein: Ich bin nicht …« schnitt er ihr das Wort ab. »Das bist du mir schuldig.«
    Elisenda konnte nicht um Hilfe rufen oder aufschreien, und Jacinto Mas wußte das. Eher würde sie sterben, als sich vor den Einwohnern von Torena eine Blöße zu geben. Deshalb konnte er ihr ungestört die Röcke ganz nach oben schieben. Sie fragte, »Was willst du?«, und er nahm sie in die Arme und trug sie zum Sofa, wo siebenundzwanzig Jahre später Tina sitzen und sie fragen würde: »Wissen Sie, wo ich seine Tochter finden kann?«
    Jetzt war Elisenda diejenige, die erstaunt war. Nach einem Augenblick fragte sie: »Welche Tochter?«
    »Seine Tochter. Der Lehrer hatte doch eine Tochter, oder?«
    »Woher wissen Sie das?«
    Das war ein weiterer Augenblick, in dem ihr die Zügel der Welt aus den Händen glitten und sie sich hilflos fühlte. Woher weiß sie das, was ist los? Was will diese Schnüfflerin?
    »Das bist du mir schuldig«, beharrte Jacinto. »Zieh dich aus, Liebste.«
    Er ließ ihre Handgelenke los und zog sein Hemd, seine Hose und seine Unterwäsche aus. Elisenda stand fassungslos vor ihm, ohne sich zu regen. Ihr Chauffeur, der treue, stumme Mann, der sie beschützt und mit seinem eigenen Leben gedeckt hatte, zeigte ihr jetzt sein aufgerichtetes Geschlecht. Halb ohnmächtig sank sie aufs Sofa. Etwas Neues in Jacintos Blick jagte ihr Angst ein, beinahe so viel Angst, wie sie einige Monate später auf dem gleichen Sofa bei der Lektüre dieser häßlichen anonymen Briefe empfinden würde. Sie sah den nackten Chauffeur an und schüttelte abwesend und gleichgültig leise den Kopf.
    Ein Bediensteter, den sie in stürmischen Zeiten nach demTod des Vaters und Bruders sorgfältig ausgesucht hatte. Ein Bediensteter, der mit seinem Leben für die Sicherheit der jungen Vilabrú einstand, ein Mann, der rund um die Uhr für sie da war und der jetzt nackt vor ihr stand und um ihre Liebe bettelte, eine Intimität von ihr verlangte, die unmöglich und lächerlich war. Sie beschloß zu kämpfen: »Du kannst mich mal. Ist dir das lieber?«
    »Zieh dich aus.«
    »Du mußt mich schon umbringen, um mich zu vergewaltigen.«
    Entschlossen stand sie auf, überwand ihren Widerwillen und ging auf Jacinto zu.
    »Du hast die Wahl: Bring mich um oder zieh dich an. Bedecke diesen lächerlichen Bauch und verlasse dieses Haus, wenn du nicht willst, daß ich dich ins Gefängnis werfen lasse. Wenn es nach mir geht, bekommst du nicht mal die Pension.«
    Jacintos Geschlecht war geschrumpft, als er feststellen mußte, daß sich zwischen ihm und der Herrin nichts geändert hatte.

45
    Die alte Ventura legte die Fingerspitze auf den Schnurrbart und ließ sie dann über die harten Augen in dem vergilbten Gesicht gleiten.
    »Mein Joan. Das Bild hab ich noch nie gesehen.« Sie sah ihre Tochter an: »Du etwa?«
    »Nein.«
    »Was steht da?« Die Alte gab Tina den Zeitungsausschnitt zurück, und während sie auf eine Erklärung wartete, griff sie nach der Kaffeetasse ihrer Tochter und schnupperte mit geschlossenen Augen daran. »Was steht da?« wiederholte sie.
    »Es scheint, daß der Bandit Joan Esplandiu von den Venturas aus Torena, alias Leutnant Marcó, in der Nähe der Stadt Lleida gesichtet wurde.«
    »Aus welchem Jahr ist das?«
    »Mai neunzehnhundertdreiundfünfzig.«
    Die alte Ventura warf ihrer Tochter einen raschen Blick zu, und diese erwiderte den Blick beiläufig. Gerade dadurch fühlte Tina sich ausgeschlossen. »Warum, was ist los?«
    »Vater kam … Nun ….« Barsch sagte sie: »Besser, wir reden nicht darüber, Mama.«
    »Das ist fünfzig Jahre her, Kind. Ich glaube, jetzt dürfen es alle wissen.«
    »Er hat Sie heimlich besucht, nicht wahr?«
    »Zweimal.«
    »Dreimal«, erinnerte sich die Alte.
    »Ja, natürlich, dreimal«, gab Cèlia zu. »Einmal, als sie meinen Bruder

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