Die Stimmen des Flusses
griff nach dem Türknauf. »Ist dieser berühmte Eliot so wichtig?«
»Denk doch mal nach«, sagte Targa belehrend. »Wenn wir Eliot erwischen, bricht das ganze Kartenhaus des Maquis in den Pyrenäen zusammen.«
»Du überschätzt Eliot. Ich glaube nicht, daß alles von einer Person abhängt.Außerdem ist er vielleicht nicht mehr als ein Phantom.«
»Was?«
»Vielleicht ist Eliot nur so etwas wie Ossian.«
»So etwas wie wer?«
Aber Oriol hatte bereits das Büro verlassen, glücklich, weil die Gefahr gebannt war, und wütend auf sich selbst, weil er das Gefühl hatte, zuviel gesagt zu haben.
43
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen.«
Das Mädchen kaute gemächlich auf seinem Kaugummi wie eine gedankenverlorene Kuh und starrte Tina an, als stünde vor ihr ein Außerirdischer und nicht eine Frau, die unbekannte Bruchstücke aus dem Leben ihres Sohnes zusammensuchte.
»Ich auch nicht. Hat Arnau hier gelebt?«
»Warum fragen Sie ihn nicht einfach selbst, Senyora?«
Daß das Mädchen sie mit »Senyora« anredete, brachte Tina vollends aus der Fassung. Sie fühlte sich steinalt. Um Himmels willen, schließlich war sie erst siebenundvierzig, hatte sechs Kilo zuviel auf den Rippen und einen Mann, der sie betrog. Aber siebenundvierzig waren nicht sechzig oder siebzig. Und wie hatte Arnau sich in ein Mädchen verlieben können, dessen Kinn eine Kugel zierte? Nun ja, nicht wirklich eine Kugel, eher ein silbernes Schrotkorn. Ihr Haar war kurz, rot und glatt, und auch am Bauchnabel blitzte Metall. Wenn Jordi sie sehen könnte, würde er sie als Junkie bezeichnen, noch bevor er den seltsamen Geruch im Zimmer wahrgenommen hätte. Na gut, laß uns aufgeschlossen sein.
»Wahrscheinlich traue ich mich nicht.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Durch Arnaus Kalender. Mireia. Lleida. Bevor er ins Kloster ging, war er noch bei dir.«
Das Mädchen hörte auf zu kauen, und Tina schien es, als blicke sie weit zurück, Jahrhunderte zurück, einen ganzen Monat zurück, bis zu ihrer letzten Begegnung mit Arnau. Sie lächelte, und Tina war verletzt, weil sie von ihren Gedanken ausgeschlossen war. Zwei mit Zementsäcken beladene junge Männer durchquerten den Raum. Die Jeans des einenwaren so eng, daß sie wie eine blaue Haut wirkten, der andere trug kurze weite Hosen, und beide keuchten unter ihrer Last. Sie grunzten einen Gruß, den Tina mit einem höflichen Kopfnicken erwiderte. Mireia goß den Inhalt der Teekanne in zwei schmutzige Tassen, und Tina nahm sich fest vor, das Gesicht nicht angeekelt zu verziehen, aber als sie die Tasse an die Lippen hob, tat sie es doch.
»Wir haben keinen Zucker«, sagte Mireia schnell.
Wie kam es, daß ein Junge wie Arnau sich für ein solches Mädchen interessiert hatte?
»Das ist egal. Er ist sehr gut«, log sie.
»Wir bauen ihn hier im Garten an.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
Wie kam es, daß ein solches Mädchen sich für Arnau interessiert hatte?
Wieder schwiegen sie eine Weile. Mireia nahm den Kaugummi aus dem Mund und nippte am Tee. Ihren gespitzten Lippen nach zu schließen, schmeckte er ihr.Tina seufzte: »Okay. Ich will nur wissen, ob Arnau glücklich ist.«
Mireia zog einen Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn Tina. Ein paar Nummern standen darauf.Tina betrachtete sie verwundert.
»Die Telefonnummer von den Mönchen«, sagte Mireia. »Dreiundneunzig und so weiter und so weiter. Ave Maria Volldergnade, wer spricht? Arni, bist du glücklich?«
Tina stellte die Teetasse auf dem orangefarben gestrichenen Tisch ab und stand auf.
»Danke. Ich dachte …«
»Arni ist öfter hier gewesen, weil er mit Paco Burés befreundet war. Aus dem Dorf, glaube ich.«
»Sie sind in Sort gemeinsam zur Schule gegangen.« Tina sah das Mädchen an und bemühte sich, umgänglich zu sein. »Und wo finde ich Paco Burés?«
»Missing. Seine Eltern haben einen Haufen Kohle, und er hatte keinen Bock mehr, hier zu arbeiten.«
Paco Burés von den Savinas. Wenn man der alten VenturaGlauben schenken durfte, gehörten die Burés zu denen, die am lautesten gelacht hatten, als Ventureta umgebracht wurde.
»Aber lebt er hier in Lleida?«
»Was weiß ich!«
Tina setzte sich wieder, goß den Tee hinunter und fühlte sich unendlich lächerlich, als sie fragte: »Aber Arni und du, ihr wart Freunde, oder?«
»Ja. Arni ist voll in Ordnung. Aber wenn er den Mund nicht aufmacht, sag ich auch nichts.«
»Klar.«
»Es ist leichter, mit den anderen zu reden als mit dem eignen Sohn,
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