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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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…«
    »Es reicht, Jacinto«, unterbrach sie ihn leise. Aber Jacinto wollte sie nicht hören, denn wenn er auf ihre Worte hörte, würden sie tief in sein Inneres dringen und zu einem Befehl werden, dem er sich nicht widersetzen könnte. Er hatte Glück, daß sie so leise sprach, weil sie dachte, das würde ihm angst machen. Elisenda Vilabrú sah, wie er mit dem Finger auf sie wies, so direkt und respektlos, wie sie es in den letzten fünfunddreißig Jahren, drei Monaten und sechzehn Tagen, die er angeblich für sie arbeitete, noch nie gesehen hatte.
    »… läßt Sie nach seiner Pfeife tanzen.Weil er den Ton angibt, und nicht nur das.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Daß er Sie bumst.«
    Senyora Elisenda Vilabrú richtete sich auf, empört, überrascht und gekränkt. Jacinto fuhr ungerührt fort: »Nachdem er Sie jahrelang begehrt und verfolgt hat, bumst er Sie endlich.«
    »Raus.« Elisenda erstickte beinahe an ihrer Empörung. »Ich schwöre dir, ich werde zusehen, wie ich dir schaden kann.«
    Jacinto Mas regte sich nicht, und Elisenda spürte einen Anflug von Panik.
    Als hätte er das gemerkt, sprach er mit rauher, gedämpfter Stimme, in der all die langen Jahre unterdrückten Verlangens mitschwangen. Zum ersten Mal duzte er sie: »Ich bin dir mein Leben lang treu gewesen. Ich habe dir gehorcht, ich habe dir nie widersprochen, ich habe mir alles von dir gefallen lassen, ich habe alle Schweinereien beseitigt, die du und dein Sohn angerichtet haben, und bin immer, immer an deiner Seite gewesen, wenn du mich gebraucht hast.«
    Elisenda protestierte nicht dagegen, daß er sie duzte. Starr und unerschrocken stand sie vor ihrem Chauffeur: »Dafür hast du jeden Monat ein Gehalt kassiert. Bin ich es dir einmal schuldig geblieben?«
    »Du bist mir mein Leben schuldig geblieben.Wieviel Mist habe ich nicht ertragen und vertuschen müssen. Tag für Tag habe ich Dinge gesehen und erfahren und geschwiegen.Tag für Tag. Ich habe mitansehen müssen, wie du mit anderen Männern im Bett warst. Und ich habe geschwiegen und mir im Auto einen runtergeholt und mir vorgestellt, ich wäre der Glückliche. Das war mein beschissenes Leben.«
    Elisenda schluckte und sah an die verschwommene Wand am Ende des Raumes. Sie sagte heftig: »Du hast deine Arbeit getan.«
    »Nein, ich habe dich geliebt.«
    Ihr stockte der Atem, denn jetzt hatte Jacinto sich erhoben und kam um den Tisch herum, während er wiederholte: »Du bist mir mein Leben schuldig geblieben, weil ich immer nur dir gedient habe. Ich habe nicht geheiratet, ich habe keine Familie gegründet, ich habe meine Schwester seit Jahren nicht gesehen, ich habe deine Geheimnisse und deine Launen erfahren und habe sie herunterschlucken müssen, denn als ich in deinen Dienst getreten bin, hast du mich bei allem, was mir heilig ist, schwören lassen, daß ich dir treu sein würde bis zum Tod. Ich bin dir immer treu gewesen. Ich habe viele Schweinereien für dich beseitigt, Elisenda. Und jetzt willst du mich nicht länger beschäftigen, nur weil meineAugen und meine Reflexe nachlassen. Und du wirfst mich aus dem Haus.« Ganz leise fügte er anschuldigend hinzu: »Deine Augen lassen ebenfalls nach, vergiß das nicht.«
    »Bleib mir vom Leib. Ich werde Senyor Gasull empfehlen, dich zu entschädigen.«
    »Ich will keine Scheißentschädigung: Ich will in diesem Haus sterben, es ist auch mein Haus.«
    Elisenda fand zu ihrer alten Schärfe zurück. »Wenn du sterben willst, nur zu«, schleuderte sie ihm entgegen.
    »Gott verfluche dich, Senyora Elisenda.«
    »Laß Gott aus dem Spiel und hüte deine Zunge.«
    »Ich gehöre zur Familie. Ich kann mich nicht von der Familie pensionieren lassen.«
    »Ich merke, du hast nicht das geringste verstanden.«
    Ohne zu überlegen, tat Jacinto Mas mit einem Satz das, was er sich seit fünfunddreißig Jahren, drei Monaten und sechzehn Tagen vorgestellt hatte: sie packen, sie berühren, sie neben sich spüren, zu den wenigen Glücklichen gehören, die sie besessen hatten, wie der Schulmeister, wie Quique Esteve, der Hurensohn, wie der Zivilgouverneur Don Nazario Prats, von dem sie eine Genehmigung gebraucht hatte. Wie Rafel Agullana aus Lleida, der sie anschließend gerichtlich belangen wollte, um den Handel rückgängig zu machen, und dem sie daraufhin gedroht hatte, ihn wegen Vergewaltigung anzuzeigen.Wie Gasull und Senyor Santiago, der einzige von ihnen, der sie zuvor geheiratet hatte. Obwohl mit dem sicher nicht allzu viel gelaufen war, weil sie sich

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