Die Stimmen des Flusses
dieser auf französisch: »Wir? Russen? Soweit kommt’s noch!« Guardans kann die Neuigkeit nicht weitergeben, weil ein Großteil beider Gruppen gerade die strapazierten Blasen erleichtert.
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Casa Gravat am Ende der Hauptstraße, die jetzt Calle José Antonio hieß, war laut der Inschrift auf dem Türsturz im Jahre 1731 erbaut worden. Damals hatte Joan Vilabrú Tor beschlossen, eine Arbeitsstätte sei das eine, ein Wohnhaus etwas anderes, und hatte auf den Grundmauern eines älteren Gebäudes im Familienbesitz ein neues Haus errichten lassen. Er ließ den Vorarbeiter, den Verwalter, die Knechte bis hin zum Laufburschen, die Geräte und Werkzeuge, das Heu, den Weizen, die Schmeißfliegen, den Gestank, den Mist, die Maultiere, die Jungpferde und das gesamte Vieh in Ca de Padrós zurück, wo die Familie bisher gelebt hatte, und baute den neuen Wohnsitz im Stil der Herrenhäuser, die er in Barcelona gesehen hatte, als er einem ruinierten Baron den Herrschaftsbezirk Malavella abkaufte. Die Baronie vergrößerte den ohnehin gewaltigen Familienbesitz um einige Morgen und sicherte Joan Vilabrú einen Platz unter den Angehörigen des Kleinadels. Einer seiner Söhne, der sich etwas auf seinen Titel einbildete, hatte sein Glück in Barcelona und auf Menorca versucht, war jedoch in die Sicherheit des Tals zurückgekehrt, als er erkannte, daß der Wohlstand der Familie sich nur mit den Geschäften mehren ließ, mit denen sie schon immer ihr Geld verdient hatte: mit Viehhandel, dem Geschäft mit Wolle und überschüssigem Heu, dem Kauf und Wiederverkauf von Grund und Boden, damit, daß man bei allen Enteignungen der Kirche geschickt seinen Vorteil nutzte, indem man die Ohren offenhielt und den anderen immer um eine Nasenlänge voraus war, und damit, daß man die Verwaltung der Ländereien nur dann anderen, vertrauenswürdigen Personen übertrug, wenn kein Vilabrú da war, um sich selbst darum zu kümmern. Seither war CasaGravat unaufhörlich gewachsen, und seit 1780 zierte die Vorderfront des Hauses ein prächtiges Sgraffito: Auf drei durch Balkone voneinander getrennten Wandflächen war eine kräftige weibliche Gestalt bei der Heuernte, der Schafschur und dem Viehauftrieb zu sehen. Wäre noch Platz gewesen, hätten Joan Vilabrús Nachkommen weitere hübsche Bilder von den Schmugglerbanden anbringen können, die einen nicht enden wollenden Strom von Waren zum Paß von Salau brachten, denn im neunzehnten Jahrhundert verdiente die Familie Vilabrú einen Großteil ihres Geldes damit, daß sie Schmuggler anstellte, Kontakt zu den Händlern in Arieja oder Andorra unterhielt, Grenzpolizisten bestach, die Ware verteilte und sich nie von den Behörden erwischen ließ. Doch dann kam die Stunde von Marcel Vilabrú (1855-1920, ein Wohltäter Torenas, R.I.P.), der sich, als das wahnwitzige Abenteuer der Ersten Republik überstanden war, in den Dienst der wiedereingesetzten Monarchie stellte und beschloß, daß seine Familie nicht nur respektiert, sondern auch respektabel sein sollte. Er bestimmte seinen zweitältesten Sohn August zum Priester und schickte Anselm, den jüngsten, auf die Militärakademie. Als die Zukunft der beiden Söhne in die Wege geleitet war, starb Josep, der älteste Sohn und Erbe (Josep Vilabrú, 1876-1905, unser inniggeliebter Sohn, R.I.P.), und Marcel Vilabrú gab ein Vermögen für die Instandsetzung des Friedhofs von Torena aus und ließ dort ein Mausoleum errichten. Neidische Stimmen behaupten, Senyor Marcels Wandlung sei nicht ganz freiwillig erfolgt, denn um die Jahrhundertwende hatten die Anführer einiger Schmuggelbanden, tüchtige, wilde Kerle, die alle Pfade, Verstecke und Hirten kannten, beschlossen, auf die Zwischenhändler zu verzichten und auf eigene Faust zu arbeiten.
Sobald man die Schwelle zu Casa Gravat überschritt, betrat man eine andere Welt, atmete eine andere Atmosphäre, roch andere Düfte, und die Geräusche von draußen drangen nur gedämpft herein. Drei Hausmädchen unter der Leitung der alten Bibiana waren einzig dazu da, Staub zuwischen und die üblen Gerüche, die von außerhalb kamen, zu vertreiben. Rechter Hand des Vestibüls führte eine Tür ins große Besucherzimmer, einen weitläufigen Raum mit drei geräumigen Sesseln, einem Sofa, einem Kamin, in dem im Winter das Feuer nie ausging und dessen Sims voller Nippes stand, zwei Spiegeln und dem Porträt von Großvater Marcel. Neben der Tür hing eine Wanduhr, passend zum übrigen Mobiliar, die zu jeder Stunde volltönend schlug.
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