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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ich Hütejunge war, als ich als Hirt die Kühe auf den Berg trieb und später als Schmuggler, der Waren über den Paß von Salau oder den Schwarzen Paß brachte. Und schließlich gegen meinen Willen als Guerrillero, als ich tapferen Kampfgenossen wie dir geheime Wege und Winkel zeigte. Nun verstecke ich mich schon so lange, mein Herz ist wund, und ich wollte wenigstens einen dervielen Toten rächen, die ich gekannt habe. Ich weiß, daß mir weitere Rache nicht vergönnt ist, aber von heute an werde ich endlich ruhig schlafen können, mein Freund. Ventureta hat es mir gesagt.
    Er hatte keine Zeit mehr, das Joch und die Pfeile vom Grab zu reißen, denn plötzlich flog kreischend das Friedhofstor gegen die Mauer, und der Lockenkopf, der mit dem schmalen Schnurrbart und zwei weitere Männer stürmten auf den Friedhof und zogen ihre Pistolen. Mit den Reflexen eines wilden Tieres schleuderte ihnen Leutnant Marcó den Hammer entgegen und lenkte sie so lange genug ab, um über die Mauer zu springen und zwischen den Bäumen zu verschwinden, wo er sich, wie er wußte, unsichtbar machen konnte. Die drei gaben ein paar Schüsse ab – der Form halber – und baten die Guardia Civil, eine Patrouille in die Berge zu schicken, weil ein mit einer Skimaske vermummter Unbekannter soeben das geheiligte Grab des kürzlich verstorbenen Kameraden Valentín Targa Sau, Bürgermeister von Torena, geschändet hatte. »Aber der ist doch gerade erst begraben worden.« »Na eben.«
    Die Patrouille der Guardia Civil durchkämmte die ganze Gegend, angeführt von Balansó, dem mit dem schmalen Schnurrbart, den Valentís Tod am stärksten getroffen hatte.Als die Umrisse im Dämmerlicht zu verschwimmen begannen und der frische Geruch der Nacht aufkam, sahen sie bei Tossal eine undeutliche Gestalt und schossen auf sie. Sie wagten nicht, näher heranzugehen, aus Angst, auf den Geröllhalden abzugleiten, aber irgend etwas hatten sie wohl erwischt, und so habe ich als Korporal und Leiter der Patrouille, die den gewissenlosen Delinquenten verfolgte, den Rückzug in die Kaserne befohlen und beschlossen, morgen an den Ort zurückzukehren, an dem die Schüsse abgegeben wurden, um die Wahrhaftigkeit unserer Vermutung zu überprüfen. Sonderkommando von Torena, ausgestellt in Rialb am 15. November 1953. Unterzeichnet von Fernando Ulloa, Korporal.
    »Was heißt ›Delinquent‹?«
    »Weiß ich auch nicht, aber die Vorgesetzten hören’s gern.«
    »Ich glaube, es heißt Sauhund oder so«, sagte Balansó.
    Am nächsten Tag sagte Balansó, er sei beschäftigt, und ließ die beiden Polizisten alleine losziehen, um auf eintausendsiebenhundert Metern Höhe herauszufinden, daß die undeutliche Gestalt, die sich dort bewegt hatte, nicht mehr da war. Dafür fanden sie eine kräftige Blutspur, die zu der Annahme führte, daß sie a) den Delinquenten getroffen hatten oder b) irgendein wildes Tier, das sich den Ordnungskräften entzogen hatte.
    »Oder c) eine andere Person. Einen Unschuldigen, meine ich.«
    »Verdammt, hör bloß auf.«
    »Du hast einfach drauflos geschossen. Du hast nicht mal ›Halt‹ gerufen.«
    »Ich habe meine Pflicht getan und denke nicht daran, diesen Bericht umzuschreiben.«
    »Das verlange ich auch gar nicht von dir, aber du schuldest mir einen Gefallen.«
    Er hatte so viel Blut verloren, daß er weißer war als der erste Schnee, der schon auf den Bergen lag. Mühsam öffnete er die Augen und fand seine Tochter Cèlia über sein Gesicht gebeugt; sie weinte lautlos, wie in Kriegszeiten. Im Hintergrund eilte jemand geschäftig hin und her, und wie aus weiter Ferne hörte er Cèlia oder Roseta mit sanfter Stimme sagen: »Er ist aufgewacht, Mutter.« Dann sah er seine Frau, in den blutbefleckten Händen das Tuch, das sie auf seine Wunde gepreßt hatte. Sie sagte: »Joan, ich muß dich zum Arzt bringen, ich weiß nicht, was da zu tun ist«, und er schüttelte den Kopf, weil von seinen blutleeren Lippen kein Laut kam.
    »Wenn nicht, wirst du sterben. Nicht einmal ein Schluck Wasser von der Quelle des heiligen Ambrosius kann dich retten.«
    Da sagte Joan Esplandiu von den Venturas aus Torena, derSohn von Tomàs aus Altron, der ehemalige Held des Maquis, der den Namen Leutnant Marcó berühmt und berüchtigt gemacht hatte: »Hol du die Kugel raus, nimm das Kartoffelmesser, das mit dem blauen Griff«, und sie erwiderte, ohne nachzudenken: »Da sieht man mal, wie viele Nächte du nicht zu Hause warst, daß du nicht weißt, daß das Messer schon lange

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