Die Stimmen des Flusses
es mir ausgedacht. Ich glaube nämlich nichts von dem, was Sie erzählt haben.«
Das Telefon klingelte, und Serrallac nahm ab. Es war ein sehr aufschlußreiches Gespräch, denn Tina erfuhr, daß Serrallacs Tochter das Geschäft führte, daß diese Tochter Amèlia hieß und daß er jetzt, da er Witwer war, kleinere Arbeiten erledigte, um nicht zu Hause herumzusitzen, daß er dieFriedhöfe der Gegend abklapperte, um zu sehen, was sich bei der Konkurrenz Neues tat, geplättete Dielen betrat und über das Material strich, sich überlegte, woher es wohl kam, und sich nicht verkneifen konnte zu beklagen – wie es schon sein Vater getan hatte –, daß die Steine heutzutage nicht mehr dasselbe waren wie früher.Außerdem fuhr er mit dem neuen Lastwagen, den Amèlia drei Jahre zuvor angeschafft hatte, das Material aus.Tina erfuhr auch, daß Jaume Serrallac einen siebenjährigen Enkel hatte, der Pere hieß wie sein Urgroßvater und Fußball spielte. Daß er das Trikot mit der Nummer vier trug. Daß er den Großvater am Sonntag erwartete, um ihm die Fotos vom Turnier in der Schule zu zeigen. Drei zu zwei, ja. Nein, er hatte kein Tor geschossen, Opa, ich bin doch die Nummer vier. Wie schön, nach einem erfüllten Eheleben Großvater zu sein! Ich werde niemals Großmutter sein können; Arnau hat es mir unmöglich gemacht, indem er die unsägliche Wahl getroffen hat, ins Kloster zu gehen, statt die Nummer vier zu spielen.Warum nimmt das Leben diese albernen Wendungen? Am hinteren Ende des Lagers erfüllte ein Arbeiter die Luft mit den dröhnenden Schlägen eines Spitzhammers auf einen Marmorblock, und einen Augenblick lang schien es Tina, als meißle er ihre Gedanken ein, und sie fühlte sich hilflos. Sie kam auf ihr Thema zurück: »Wie war er als Lehrer?«
»Ich habe ihn nicht in schlechter Erinnerung. Er muß wohl gut gewesen sein. Nach ihm hatten wir eine schreckliche Lehrerin, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Aber da war ich schon im Seminar, und sie konnte mir die Freude am Lesen nicht mehr verderben.«
»Sie waren im Seminar? In La Seu?«
»Ja. Mein Vater hat mich hingeschickt, obwohl er Anarchist war.«
Tina fühlte sich dem blauäugigen Steinmetz verbunden. Sie war versucht, ihm zu sagen, ich bin zwar keine Anarchistin, aber mein Sohn hat mich ohne meine Einwilligung zur Mutter eines Mönchs gemacht.
»Waren Sie lange dort?«
»Ich habe mich verliebt.«
Jetzt dachte Tina an Mireia aus Lleida, deren Herz nicht stark genug gewesen war, um gegen Gott zu gewinnen, die zugelassen hatte, daß er ihr Arnau entriß. Deshalb bemerkte sie nicht, daß die blauen Augen des Mannes einen Augenblick lang einen bekümmerten Ausdruck annahmen.
»Noch einen Kaffee?«
»Nein, danke.« Sie würde nicht schlafen können, sich im Bett hin und her wälzen, Jordi, warum hast du mir das angetan, wer ist sie, sag schon.
»Aber sagen Sie mal, Senyora …«
»Ich heiße Tina, und du kannst mich duzen, wenn du willst.«
»Tina. Ich glaube das nicht. Oriol Fontelles war ein widerlicher Faschist, und alle im Dorf haben das immer gewußt. Denk nur, er war ein Herz und eine Seele mit Targa, den sie den Henker von Torena genannt haben. Und der Maquis hat ihn in einer Vergeltungsaktion getötet. Ende der Geschichte. Grabstein. Und so weiter. Warum zeigst du mir nicht die Fotos?«
»Welche?«
»Die, die du auf dem Friedhof gemacht hast.« Mit einer Handbewegung umfaßte Serrallac die ganze Werkstatt: »Wenn sie gut sind, könnte ich sie als Werbung benutzen.«
»Meine Fotos sind immer gut.Was weißt du über den Tod von Fontelles?«
Serrallac sah zu der Zigarettenpackung hinüber, beherrschte sich aber. Er legte die Hände aneinander: »Es heißt, die Herrin von Casa Gravat sei eine der wenigen, die alles gesehen haben. Geh zu ihr. Allerdings kann es sein, daß sie dich gar nicht erst empfängt, sie ist nämlich sehr hochnäsig, und wir aus dem Dorf stinken alle nach Mist. Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
Jetzt leuchteten seine Augen; ihm war anzusehen, daß er gerne spielte. Er nahm die Mütze ab, und zum ersten Malsah Tina sein üppiges weißes Haar, das einmal weizenblond gewesen sein mußte.
»Es war sie persönlich, die das Grab des Lehrers immer so sorgfältig gepflegt hat. Einmal im Monat ist sie zum Familienmausoleum gegangen, hat frische Blumen gebracht und so weiter. Und dann stand sie ein paar Minuten lang vor dem Grab von Oriol Fontelles. Die reichste Frau des Universums, und einmal im Monat kam sie, selbst wenn
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