Die Stimmen des Flusses
sie am anderen Ende der Welt war, und brachte dem Lehrer eigenhändig frische Blumen.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Nicht mehr, seit sie blind ist. Eine Hausangestellte kümmert sich drum.«
»Hast du mit ihr zu tun gehabt?«
»Senyora Elisenda hat sich immer vom Dorf ferngehalten. Hier im Pallars gibt es in vielen Dörfern ein Herrenhaus, das sich vom Dorfleben fernhält, und in Torena ist das Casa Gravat mit seinem ganzen Haß wegen der Toten. Und ich lebe nun mal direkt gegenüber von Casa Gravat.«
Tina schwieg; sie wollte, daß der Mann weitererzählte, ihr Auskunft über die Geschichten gab, die allmählich zu ihrer eigenen Geschichte wurden, aber der Arbeiter im Hintergrund beschloß, es solle nicht sein: Er kam ins Büro, den Hammer in der Hand, und fragte, ob die Steinplatten für das Rathaus von Esterri seien. Tatsächlich wollte er sich diese hübsche Frau mal aus der Nähe ansehen.
»Alle.Amèlia wird sie sehen wollen,bevor wir sie aufladen.«
Der Arbeiter betrachtete die Besucherin neugierig. Nein, von nahem sah sie nicht so gut aus. Zu füllig. Er legte die Hand an die Mütze, eine Geste, die Tina an den Bauarbeiter in der Schule erinnerte, und ging in die Ecke mit den Platten zurück, von denen er schon gewußt hatte, daß sie für das Rathaus von Esterri bestimmt waren.
»Wo waren wir stehengeblieben?« fragte Jaume Serrallac und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, um sich zu erinnern.
»Bei Senyora Elisenda.«
»Ja. Es heißt, sie sei schon als junges Mädchen mit Franco befreundet gewesen und jetzt sei sie mit dem König befreundet, auch wenn sie blind ist und sich überhaupt nicht mehr aus Casa Gravat fortrührt. Es heißt, sie hätte Ländereien … Nein, wie sagt man? Daß du von Vielha bis nach Puigcerdà oder bis nach Lleida laufen kannst, ohne den Grund und Boden von Senyora Elisenda Vilabrú zu verlassen. Das ist doch was, oder?«
»Das habe ich von vielen Leuten sagen hören.«
Serrallac trank seinen zweiten Kaffee aus und warf den Becher in den Papierkorb.
»Ich weiß ja nicht, was der Lehrer in diesem Brief erzählt, aber ich glaub’s erst mal nicht.«
Tina seufzte, öffnete die Mappe und nahm ein paar maschinengeschriebene Blätter heraus. Sie legte sie auf den Bürotisch.
»Dies ist ein Teil des Briefes von Fontelles an seine Tochter. Weißt du übrigens, ob der junge Burés hier irgendwo ist?«
»Paco? Ich glaub, der ist in Bosnien oder so. Er arbeitet bei einer NGO.«
»Wenn das doch nur mehr Leute täten!«
»Da magst du recht haben. Er ist ganz anders als die Leute von den Savinas, die sind alle halbe Faschisten.« Er deutete auf die Papiere: »Soll ich sie lesen?«
»Wenn es dir nichts ausmacht, deine Meinung zu ändern, ja, tu mir den Gefallen.«
»Warum interessiert dich die Geschichte so sehr? Wolltest du nicht einen Fotoband machen?«
Tina lauschte in sich hinein, zeigte ein zaghaftes, erstarrtes Lächeln und sagte, ohne Serrallac anzusehen, sie wisse noch nicht genau, warum sie es tue. »Aber die Lüge regt mich auf, genauso wie die Leute, die sich der Lüge bedienen. Ich würde mich freuen, wenn du mir helfen könntest, Fontelles’ Tochter zu finden. Ich weiß nur, daß sie Joan heißt.«
»Wer?«
»Die Tochter des Lehrers. Kennst du irgendeinen Joan?«
»Hast du nicht gesagt, es wär eine Tochter?«
»Lies das und überleg schon mal, wie viele Joans du kennst.«
50
Zwei, drei Tage lang notierten zwei Männer mit Trenchcoats, grimmigen Mienen und Zigarillos im Mund alles, was im Dorf geschah, gingen vor den Häusern der Ventura, der Misserets und der Feliçós auf und ab, vor allem aber vor dem Haus der Familie von Ignasis Maria, als wären sie überzeugt, daß Josep Mauri jeden Augenblick zurückkehren würde, um seine Familie zu besuchen und sich bei dieser Gelegenheit umbringen zu lassen. Währenddessen kam die schriftliche Benachrichtigung über die Ernennung von Don Pedro Cases Tribó (Pere von den Majals) zum neuen Bürgermeister von Torena als Nachfolger für Don Valentín Targa Sau (den Henker von Torena), dessen tragischer Tod unsere Herzen mit Trauer erfüllt. In dieser Zeit fanden auch die bewegenden Trauerfeierlichkeiten in der Kirche statt, an denen zahlreiche Unbekannte teilnahmen, außerdem Senyora Elisenda, die Báscones, die Burés, kurz gesagt, der ganze Haufen. Der Rest des Dorfes saß zu Hause, starrte an die Wand und hoffte, daß sie ihn ein für allemal begraben würden und daß die Fremden, die riefen, »Valentín Targa
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