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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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kaputt ist.« Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Nein, das kann ich nicht.« Und er sagte: »Es ist nur eine Kugel im Bauch.Wenn du sie rausholst …«
    Aber die Ventura wußte nicht, wie sie die Wunde versorgen sollte, weil die Kugel sich tief im Inneren versteckte. Sie wußte auch nicht, daß es keinen langsameren und qualvolleren Tod gibt als den durch einen Bauchschuß. Sie wußte nur, daß sie vor weniger als einer halben Stunde, als es schon dunkel wurde und der Topf auf dem Herd stand, gehört hatte, wie etwas am Fensterladen rüttelte. Erwartungsvoll hatte sie geöffnet. Sie dachte, Joan kommt zurück, wie er es den Mädchen versprochen hat, aber ohne vorher Bescheid zu sagen, ohne mich zu fragen, was ich davon halte, und nur zwei Tage, nachdem er fortgegangen ist. Und er war zurückgekommen, ohne Bescheid zu sagen, ohne sie zu fragen, was sie davon hielt, nur zwei Tage später, aber weiß wie ein Gespenst, mit einer Kugel im Bauch, wenig Blut in den Adern und dem Hauch des Todes im Nacken.
    »Mein Gott.Was soll ich tun?«
    »Leg mich hin.«
    »Du warst das auf dem Friedhof.«
    »Sieh zu, daß ich nicht noch mehr Blut verliere. Manel soll es sich ansehen.«
    Dann verlor er das Bewußtsein. Cèlia und Roseta brachen in Tränen aus; das Unglück war einfach zu groß für zwei Kinder.
    »Hol den Onkel, schnell«, sagte die Mutter zur älteren von beiden.Aber auch Manel Carmaniu, der mehr als zwanzig Kälbern auf die Welt geholfen hatte, konnte nichts ausrichten. Als sie beschlossen, daß ihn, wenn er schon sterben mußte, besser ein Arzt zu Gesicht bekäme, damit er nicht verrecken mußte wie ein Hund, starb Ventura, dickköpfig bis zum Schluß, um das zu vermeiden.
    Gegen fünf Uhr morgens wurde der Körper von Leutnant Marcó allmählich kalt. Die Ventura saß mit gesenktem Kopf da und weinte, neben ihr die beiden Mädchen, die den Kopf in ihren Schoß gelegt hatten und eingeschlafen waren, erschöpft vom Kummer. Sie träumten von allem Unglück dieser Welt, und Manel Carmaniu tätschelte seiner Cousine den Nacken und sagte: »Glòria, Joan ist tot, und wir müssen es melden. Ich weiß nicht, wem, aber irgend jemandem müssen wir es melden.«
    »Hier wird niemandem etwas gemeldet.« Die Ventura hob den Kopf; plötzlich war sie wieder stark.
    »Aber hör mal … Joan ist tot … sie können ihm nichts mehr tun.«
    »Weißt du, warum sie hinter ihm her waren?«
    »Wegen allem möglichen.Aber jetzt können sie ihm nichts mehr tun.« Manel betrachtete seinen angeheirateten Cousin, der ausgestreckt auf dem Bett lag. »War das etwa er, das auf dem Friedhof?«
    Die Ventura nickte, und aus dem Grunde ihrer Angst heraus sagte sie: »Aber ich glaube, sie haben ihn nicht deshalb gejagt.«
    »Naja, wir wissen ja, daß sie Joan am liebsten im Gefängnis hätten verrotten lassen.«
    »Nein, nein. Sie haben ihn wegen … wegen etwas anderem gesucht.«
    »Weswegen?«
    »Besser, du weißt es nicht.«
    »Ich bin dein Cousin.«
    »Ich und er, wir haben Valentí Targa umgebracht.«
    »Oh, mein Gott.«
    »Gott gibt es nicht. Nach neun Jahren haben wir’s geschafft,Targa zu töten.«
    »Mein Gott.«
    In seiner Angst grub Manel Carmaniu neun Spannen tief. Er und die Ventura hatten die ganze Nacht lang gegraben, während die Tränen ihren Blick verschleierten, bis sie erschöpft zu Boden sank, die Handflächen eine einzige Wunde, und Manel allein weitergrub, bis er in neun Spannen Tiefe angelangt war, damit kein Hund, keine Ratte und kein Faschist jemals auf die Idee käme, Joan Ventura, bekannt als Leutnant Marcó, verfolgt von den Franquisten, zum Tode verurteilt als Partisan, gehaßt von den Faschisten des Dorfes, könne an einer verirrten Kugel gestorben sein und ruhe nun im Hof seines Hauses, ohne Namen auf einer Grabplatte, die den Boden bedeckte und den die Sterne in den klaren, eisigen Winternächten lesen könnten. Er lag unter der Stelle, wo sie den Karren aufbewahrten, neben dem Schuppen, wo das Pferdegeschirr hing, und während er im Leben immer von zu Hause weggelaufen war, um für seine Träume zu kämpfen, würde er jetzt für immer bei der Ventura bleiben, still, kalt, aber in ihrer Nähe. Er hatte seine Ruhe gefunden. Und in der Erinnerung der anderen würde er für immer leben, stark, rebellisch und geheimnisvoll.
    Als sie die Grube wieder zugeschaufelt hatten, schworen sich Cousin und Cousine, niemandem davon zu erzählen, und die Ventura sagte es nicht einmal ihren Töchtern, die zu dieser Zeit schliefen,

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