Die Stimmen des Flusses
Krämer in Sort zuerst ein neues rotes Glöckchen, bevor er nach Torena fuhr, um Glòria von den Venturas den Hof zu machen, denn sie sollte auf keinen Fall merken, daß das alte verschwunden war.
51
Normalerweise machte es ihr nichts aus, nach Barcelona zu fahren, trotz der dreistündigen Fahrt. Aber heute hätte sie gerne einen anderen Grund für die Reise gehabt als einen Empfang beim König ohne König. Wahrscheinlich würde sie dort Mamen treffen, die Schlampe, die mit ausgestreckten Armen, geneigtem Kopf und einem starren Lächeln auf den Lippen auf sie zukommen würde, ein Glas Whisky in der Hand, und Anstalten machen würde, sie zu umarmen, ob sie nun wollte oder nicht, wobei der Whisky gefährlich im Glas schwappte. Sie würde nicht etwa sagen: »Oh, Elisenda, ich habe sehr gelitten und viel geweint in den vier Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, und ich bitte dich um Verzeihung dafür, daß ich mit deinem Quique im Bett war.« Nein, Mamen Vélez würde so tun, als hätten sie sich gerade am Tag zuvor gesehen. Sie würde auf sie zuwalzen, würde ihr zwei Judasküsse auf die Wange drücken und ihr sagen: »Ist es nicht wundervoll, daß wir einen König haben, Eli?«
Sie hatte es vor einem Monat durch einen Anruf von Ricardo Tena erfahren, dem Ehemann von Mamen Vélez, der ebenso schlecht über die Seitensprünge seiner Frau informiert war wie gut über alles, was mit dem wankenden Regime zusammenhing, und nun ist er tot, und ich bin sehr traurig, denn er hat mein ganzes Leben geprägt.
»Er ist tot, Elisenda«, hatte er ihr gesagt.
»Wer ist tot?«
»Der Caudillo. Ich bin traurig.«
»Wo ist Mamen?«
»Ich weiß es nicht, als ich nach Hause kam, war sie nicht da.«
Wahrscheinlich treibt sie’s gerade mit dem Liebhaber einer Freundin.
»Bist du sicher, daß das stimmt?«
»Ich weiß es aus erster Hand. Ich war im Círculo, und dort gibt es Leute, die in direktem Kontakt mit Madrid stehen. Wußtest du es noch nicht?«
»Nein.«
»Ich habe Angst vor dem, was jetzt kommt.«
Deine Frau sollte dir angst machen, nicht das Land. Das liegt im Schlaf.
»Was soll schon passieren?«
»Was weiß ich. Die Revolution. Racheakte. Leute, die auf die Straße gehen.«
»Ach was. Reg dich nicht auf.«
»Glaubst du, ich sollte mein Geld fortschaffen?«
»Du solltest es eigentlich gar nicht mehr hier haben.« Elisendas Tonfall war kühl, dem Gesprächsthema angemessen.
»Woher hätte ich das denn wissen sollen!«
»Franco ist nicht unsterblich.«
»Der Caudillo nicht, aber das Regime schon.«
»Und der König?«
»Das ist eine Entscheidung des Caudillo.«
Sie hatte keinen Grund, ihm zu versichern, daß sich mit dem Tod des Diktators nicht das Leben derjenigen ändern würde, die an seiner Seite gestanden hatten. Was wußte sie denn schon. Mehr aus Intuition als aus kühler Berechnung hatte sie sich nach und nach mit jeder Gefälligkeit mehr von den falangistischen Zivilgouverneuren und Ministern distanziert und Freundschaft fürs Leben mit den Ministern des Opus geschlossen.
»Einiges wird sich schon ändern, Ricardo.«
»Ja, ich weiß, du hast Kontakte und …«
Ich weiß wirklich nicht, was die Leute denken: daß ich mit Franco jede Woche zu Mittag gegessen habe?
»Woher denn. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, daßdu beruhigt sein kannst: Die Regierung hat alles unter Kontrolle.«
Als Senyora Elisenda Vilabrú auflegte, hörte sie ein merkwürdiges Geräusch. Obwohl Ende November die Fenster geschlossen waren, vernahm sie deutlich das provozierende, respektlose, vor allem aber beunruhigende Knallen eines Sektkorkens. Die Feliçós feierten Francos Tod. Auch sie hatten gute Kontakte.
Als Jaume Serrallac am nächsten Tag bei Marés die Titelseite der Zeitung sah, rief er aus, »Endlich ist Franco tot, mein Gott, ich werde mich mit Sekt besaufen«, und sah mit anderen Augen zu Casa Gravat hinüber. Dann fuhr er mit einer Flasche Sekt, die er bei Marés erstanden hatte, in die Werkstatt hinunter, bevor sein Vater, der sich seit Jahren nicht mehr dort hatte blicken lassen, kommen konnte, um ihn daran zu erinnern, daß sie den Venturas noch etwas schuldeten. Er öffnete die Flasche, freute sich am Knallen des Korkens, holte die Zeichnung hervor und machte sich daran, den Gedenkstein zu meißeln, den Ventureta verdiente, den mit dem richtigen Kreuz und den Strahlen und dem Bild von Manel Lluís, voller Angst, weil er nicht wußte, wie es nach diesem hoffnungsvollen November weitergehen
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