Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
überwältigt von den Geschehnissen. Vielleicht aber hatten sie doch nicht geschlafen, denn am nächsten Tag sah die Ventura, wie Cèlia, als sie sich unbeobachtet glaubte, Roseta wortlos am Arm packte, sie in den Hof zog und dort ohne jeden Kommentar neben dem Schuppen ein aus Palmwedeln geflochtenes Kreuz an die Wand hängte, direkt über dem Grab. Und obwohl die Ventura nicht mehr an Gott glaubte, rührte sie das Kreuz nicht an, weilihre Töchter es aufgehängt hatten, die einzigen Menschen, die ihr noch geblieben waren. Mutter und Tochter sprachen nie darüber, nicht einmal bei Rosetas ungerechtem Tod, bis zu dem Tag, an dem diese einfältige, dickliche, neugierige Lehrerin mit einem Fotoapparat in der Hand auftauchte und sie fragte: »Und wann ist Ventura zum dritten Mal zurückgekommen?«
    Hätte Pere Serrallac das gewußt, er hätte seinen Sohn an der Schulter gepackt, hätte ihn in den Hof der Venturas mitgenommen, hätte die Zigarettenkippe, die immer in seinem Mund hing, herausgenommen, hätte einen Tabakkrümel ausgespuckt und gesagt: »Hör zu, Jaumet, damit sich das in dein Gedächtnis eingräbt, wie du die Buchstaben in den Stein gräbst. Grab’s dir ins Gedächtnis, daß im Hof der Venturas neben der Trennmauer zum Hof von der Familie von Ignasis Maria, neun Spannen unter der Erde, unter der Stelle, an der Manel Carmaniu den Karren seiner Cousine abstellt, wenn er vom Feld zurückkommt, markiert mit einem Kreuz aus verrotteten Palmwedeln, der ehemalige Schmuggler und rebellische Guerrillero ruht, der stets seinen eigenen Weg gegangen ist und sich nicht um die großen Pläne der Exilkommunisten geschert hat und doch eine entsetzliche Schlagkraft besaß, weil er wagemutig war und die Gegend kannte wie seine Westentasche. Sein Kriegsname, der aber in den Geschichtsbüchern nie zu lesen sein wird, Jaumet, ist Leutnant Marcó. Sein wahrer Name ist Joan Esplandiu Rella, Sohn von Tomàs in Altron, verheiratet mit Glòria Carmaniu, der ältesten Tochter der Venturas aus Torena, deren Namen er angenommen hat, weshalb ihn viele Joan Ventura nennen. Er ist der Vater von Joan Ventureta und von Cèlia und Roseta Ventura, und als Vater und Gatte hat er sich nicht besonders geschickt angestellt. Und er soll dir als Beispiel dafür dienen, wie du’s lieber nicht machen sollst, wenn du eines Tages heiratest, mein Sohn. Wahrscheinlich hatte er keine andere Wahl. Das aber kann nur verstehen, wer weiß, was am31. Dezember 1924 geschah. An diesem Tag nämlich hatte Joan Esplandiu, Kopf einer Schmugglerbande mit einundzwanzig Jahren, die Ladung im Versteck in der Scheune von Menaurí abgeladen und seine Männer, die vom zweitägigen Eilmarsch entlang der Ufer des Pamano unter dem dunklen Schatten des Bernui erschöpft waren, nach Hause geschickt, als er bei den Bienenkörben von Ravell, wo – wie einige behaupten – vor langer, langer Zeit die Mauern der Burg von Malavella standen, ein Glühwürmchen gewahrte, die Spitze einer brennenden Zigarette.Valentí Targa von den Roias wartete auf ihn und sagte mit seiner ruhigen Baritonstimme: »Ich wüßte zu gern, wo verdammt noch mal du herkommst.«
    »Was hast du?«
    Im schwachen Licht eines Streichholzes zeigte ihm Targa ein rotes Glöckchen aus Metall, das Joan Esplandiu stets an seinem Hemd trug, seit ein Mädchen aus Torena mit tiefer Stimme und überwältigenden Augen es ihm mit den Worten geschenkt hatte: »Einverstanden, du darfst mit mir ausgehen.« »Die hast du bei der Scheune von Palanca verloren«, sagte Targa, »und das heißt, du bist einer von den Maskierten. Das wiederum heißt, daß Caregue mir deinetwegen einen Tritt in den Arsch verpaßt hat, und das heißt, daß ich dich jetzt umbringen werde, weil du ein verfluchter Hurensohn bist.« Die Messerklinge blitzte nicht auf, weil der Mond sich hinter den Wolken verborgen hatte, aber sie drang bis zum Heft in Joan Esplandius Bauch. Targa wartete das Ende des dritten Tages nicht ab, um Altron, der Familie, der Landschaft und dem Rauschen des Pamano den Rücken zu kehren. Er war einundzwanzig, als er sich in Barcelona niederließ, wo die Leichen von Großindustriellen und Arbeitern die Straßen pflasterten, und er hatte keine Zeit für Heimweh, weil er gleich Arbeit fand. Entgegen allen Erwartungen überlebte Joan Esplandiu die Attacke; zwei Monate lang mußte er mit dieser seltsamen Wunde, die ihm die Hörner eines Widders beigebracht hatte, das Bett hüten, und als er wieder genesenwar, besorgte er sich beim

Weitere Kostenlose Bücher