Die Stimmen des Flusses
sie ihn geliebt hatte. Die Frau klopfte mit einem sorgfältig manikürten Nagel auf eines von Jordis dunkelbraunen Augen und nahm ihre Brille ab, so daß sie an einer Kette um ihren Hals baumelte.
»Einmal pro Woche. Mit seiner Frau.«
»Ich bin seine Frau.«
»Huchje.«
»Ja.«
Tina umfaßte die Tasse mit dem Milchkaffee mit beiden Händen, um sich zu wärmen. Hinter der Theke schenkte der Wirt den ersten Ausflüglern und Lastwagenfahrern Kaffee aus und warf ab und an einen finsteren Blick zu den beiden Frauen hinüber.
»Und was kann ich tun?« fragte die Pensionswirtin und seufzte.
»Ich möchte wissen, wer sie ist.«
»Ich glaube, es ist besser, Sie vergessen das Ganze.«
»Nein. Ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht weiß, wer sie ist.«
»Sie würden bestimmt ruhiger leben, wenn Sie nicht dauernd drüber nachdenken.«
»Es muß jemand sein, den ich kenne, da bin ich mir sicher. Und ich will mich von den beiden nicht an der Nase herumführen und mir kein Theater vorspielen lassen. Ich will es ihnen ins Gesicht sagen können.«
»Das werden Sie nicht tun. Das kostet zu viel Überwindung.«
»Ich werde es tun.«
»Das können Sie mir ja dann mal erzählen.«
Der Mann brachte Tina ihr Sandwich. Er zischelte seiner Frau zu: »Du kannst ihr doch nichts über unsere Gäste erzählen.«
»Kümmer du dich um den Kaffee, Liebling.« Sie sah ihn kaum an, nickte nur befehlend zur Theke hinüber. Dann lächelte sie Tina an. Sie öffnete das Buch und setzte ihre Brille auf. »Hier steht: letzten Dienstag.«
»Jeden Dienstag, ich weiß nicht, seit wann.«
»Seit dem Sommer. Hier jedenfalls seit dem Sommer.«
Seit dem Sommer. Mein Gott, seit dem Sommer log Jordi jetzt schon und enthielt ihr einen Teil seines Lebens vor, seit dem Sommer war sie der Liebe ihres Liebsten beraubt.
»Es tut mir leid«, sagte die Pensionswirtin. »Sollen wir weitermachen?«
»Ja.«
Die Frau durchsuchte das Buch und murmelte dabei vor sich hin »Dienstag, Dienstag … Hier.« Sie wies mit dem polierten Nagel auf zwei Namen. »Sie heißt Rosa Bel.«
»Rosa Bel.«
»Kennen Sie sie?« Jetzt war die Wirtin neugierig.
Rosa Bel. An der Schule gab es zwei Rosas, aber keine von ihnen hieß Bel. Rosa Bel. Das hieß also, daß sie die Geliebte ihres Mannes nicht kannte. Und sie hatte gedacht, es sei eine ihrer Arbeitskolleginnen.Vielleicht war es besser so. Vielleicht … Aber woher kannte er sie dann? Er hatte doch gar keine Zeit gehabt, sie kennenzulernen …
»Es könnte ein falscher Name sein.«
»Na, hören Sie mal. Wir verlangen den Personalausweis, hier hat alles seine Ordnung.«
»Entschuldigen Sie bitte.«
Sie hatte ihr Brot halb aufgegessen und hatte das Gefühl, es bliebe ihr im Hals stecken. Dabei sollte sie doch froh sein, daß keine ihrer Arbeitskolleginnen sie betrog! Statt dessen war sie enttäuscht, weil Jordi ihr so noch ein wenig fremder wurde, weil er eine Welt hatte, die sich ihrer Kontrolle entzog, und weil sein Verrat dadurch noch gewaltiger wurde. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: »Wie heißt der Mann?«
»Jordi Oradell.«
»Wie?«
Die Frau drehte das Buch herum, so daß sie es sehen konnte. In Jordis Schrift stand da: Jordi Oradell. Und in einer Schrift, die ihr nicht gänzlich unbekannt war – wessen Schrift war das nur? –, stand da: Rosa Bel. Allmählich begriff sie.
Während sie unter der Dusche stand, um sich aufzuwärmen, zog Jordi erstaunt den Vorhang zurück.
»Warst du heute gar nicht im Bett?«
»Ich bin schon lange auf.« Sie drehte das Wasser höher, um weiteren Fragen zu entgehen. Jetzt war sie diejenige, die Geheimnisse hatte. Jordi rasierte sich schweigend, vielleicht wunderte er sich, vielleicht dachte er an seine Angelegenheiten. Er war noch im Bad, als sie in die Schule ging und somit eine weitere Reihe unbequemer Fragen vermied.
Rosa und Joana blickten auf, als sie das Sekretariat betrat, aber als sie sahen, daß sie es war, wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Habt ihr eine Liste des Kollegiums?«
»Ja.Was möchtest du wissen?«
»Ich brauche ein paar Telefonnummern.«
»Wenn du willst, suche ich sie dir heraus.« Joana rückte ihren Stuhl vor den Bildschirm. »Welche Nummern brauchst du?«
»Agnès und … und Ricard Termes«, sagte sie aufs Geratewohl.
Nach zwei Sekunden sagte Joana mit eisiger Effizienz: »Schreib auf.« Und sie mußte sich die Telefonnummern von Agnès und von Ricard Termes notieren, die sie nicht im geringsten interessierten. Sie lächelte
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