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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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möglich ist? Das wird nicht mehr lange dauern. Ist es das? Ist dir völlig gleichgültig, was aus deinem Sohn wird, aus meinem Enkel?«
    »Als ob du ein Musterbeispiel mütterlicher Hingabe gewesen wärest.«
    Senyora Elisenda Vilabrú musterte ihren Sohn mit dem Blick, den sie sich für ihre Feinde vorbehielt, und sagte: »Du hast kein Recht, über mich zu urteilen.« Zum dritten- oder viertenmal im Leben war sie kurz davor, zu sagen, wenn ich mich deiner nicht angenommen hätte, Kind, wärst du im Armenhaus gelandet, also halt den Mund. Mühsam riß sie sich zusammen. »Soll ich es Mertxe erzählen?«
    »Ich will mich nicht trennen. Das war eine Dummheit, ich habe ein bißchen Dampf abgelassen, weiter nichts. Das ist nicht von Bedeutung.«
    Seit dem Tag, an dem sie Quique Esteve aus ihrem Privatleben verbannt hatte, hatte Elisenda einen langen Wegzurückgelegt, bis hin zu jener sublimierten Enthaltsamkeit, die einerseits ihre Erinnerung an Oriol verstärkte und sie andererseits der Institution so nahegebracht hatte, daß diese zu ihrer Verbündeten geworden war.Vor allem aber vermittelte die Enthaltsamkeit ihr das angenehme Wissen, ihr Leben jederzeit so unter Kontrolle zu haben, daß kein Feind durch die Spalten einer Schwäche spähen konnte.
    »Ich verstehe dich nicht, Marcel.«
    »Eine Betschwester wie du kann das auch nicht verstehen.«
    Was sage ich ihm? Soll ich ihm mein Leben erzählen? Verzeihe ich ihm das seine?
    »Wenn ich dich noch einmal mit einer anderen Frau als Mertxe erwische … wird dein Leben um einiges ungemütlicher.«
    »Aber Mertxe und du, ihr könnt euch nicht ausstehen!«
    »Na und?« Mamà schrie jetzt. »Sie ist deine Frau und die Mutter meines Enkels. Deines Sohnes.«
    Der Vater ihres Enkels stand auf. Zum ersten Mal in seinem Leben lehnte er sich gegen sie auf. Er sagte: »Sieh mal, Mamà, ich habe mein Privatleben, und das wirst du nie verstehen können. Nein, ich bin noch nicht fertig. Ich bin jetzt zweiunddreißig und kann tun und lassen, was mir gefällt. Habe ich wichtige Kunden in Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland gewonnen oder nicht? War es nicht so, daß ihr nicht eine Pesete darauf verwettet hättet, weil ihr dachtet, sie seien die einzigen, die was vom Wintersport verstehen? Gehen nicht dreiundsechzig Prozent unserer Skiexporte nach Skandinavien?«
    »Ja.«
    »Und Gasull hat gesagt, das kann uns ruinieren, und ich habe gesagt, unsere Preise sind unsere Rettung. Die Qualität ist fast die gleiche, aber wir schaffen’s über die Preise.«
    »Du hast recht.«
    »Und ist nicht unsere Skistation eine Gelddruckmaschine, vor allem, seit ich die Schneekanonen installiert habe?«
    »Ja.«
    »Schön. Bleib du in Torena, ich kümmere mich um alles.«
    »Nein. Du machst das gut, aber du wirst die Geschäfte erst übernehmen, wenn ich es sage.«
    »Dann hör auf, mir auf die Eier zu gehen.«
    »Das lasse ich mir weder von dir noch von sonst jemandem sagen.«
    »Nun, ich habe es gesagt. Und jetzt habe ich zu tun.«
    Mamà stand ebenfalls auf und ging um den Tisch herum, bis sie vor Marcel stand, der wütend Papiere in die Mappe mit dem Dossier stopfte. Sie sah ihn an, dann verpaßte sie ihm eine klatschende und äußerst schmerzhafte Ohrfeige. Das war ihre – schwindende – Möglichkeit, das letzte Wort zu behalten.

54
    Oberst Silván stieg aus dem schwarzen Wagen, setzte sich mit finsterer Miene das Käppi auf und nahm die Plaça Major von Torena mit der gleichen Geste in Besitz, die auch Bürgermeister Targa so gefiel: Die Hände in die Hüften gestemmt, ließ er den Blick umherschweifen, drehte sich um sich selbst und wippte drei-, viermal auf den Fußspitzen. Eine gebieterische Positur.Trotz seiner ein Meter und sechzig war er der Gebieter. Trotz seines weißen Haars und seiner Falsettstimme war er der Gebieter. Der Bürgermeister – in kompletter Falangeuniform wie auch seine Begleiter – erwartete ihn auf der Treppe des Rathauses. Gefolgt von seinen Adjutanten und Valentí Targa, betrat der Oberst das Gebäude. Im Büro des Bürgermeisters hielt er überrascht vor Targas Porträt inne. Er streckte eine Hand nach hinten, und der Adjutant reichte ihm eine Zigarre und Streichhölzer. Schweigend betrachtete er Targas lebendige Augen auf dem Bild, während er die ersten Züge tat. Dann ging er ohne jeden Kommentar in die Mitte des Raumes, zog das Käppi ab, das der Adjutant entgegennahm, und beugte sich über die auf dem Sitzungstisch ausgebreiteten Karten, neben denen

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