Die Stimmen des Flusses
zufrieden und verabschiedete sich.Als sie zur Tür hinaus war, hob Rosa den Kopf von der Arbeit und sagte zu Joana: »Ich frage mich, warum sie sie nicht selbst danach fragt.«
Angst. Die Schule bei Nacht machte ihr angst. Es konnte nichts passieren, aber das Halbdunkel der Notbeleuchtungwar schlimmer als vollkommene Finsternis, weil es Schatten und Gespenster gebar. Sie legte den Hebel am Schiebefenster des Empfangs um, schob das Fenster beiseite und tastete sich an der Wand entlang, bis sich der Schlüsselhaken in ihre Hand bohrte. Sie nahm den Schlüsselbund, und nachdem sie zwei Minuten lang den richtigen Schlüssel gesucht hatte, betrat sie das Sekretariat. Sie hatte eine Taschenlampe dabei wie ein Einbrecher.Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde.
Im Schimmer des Bildschirms wirkte nun ihr Gesicht gespenstisch. Erst nach einer schrecklich langen Viertelstunde fand sie die Datei mit den Namen der Lehrer. Sie war zu ungeduldig, um sie auszudrucken, und so suchte sie auf dem Bildschirm nach der Lehrerin, die mit zweitem Nachnamen Bel hieß, so wie Jordi seinen zweiten Nachnamen angegeben hatte, der im Personalausweis stand und doch ihre Identität verschleierte. Agnès hieß mit zweitem Nachnamen López, Dora Espinalt, Carme Duc. Und Maite? Riera. Gab es niemanden, der Bel hieß?
Es gab keine Lehrerin, deren zweiter Nachname Bel lautete. Dein Scharfsinn war für die Katz, die ganze riskante Aktion vergebens, all die Ängste und Sorgen waren umsonst. Dann kam sie auf die Idee, das übrige Personal zu überprüfen, und da fand sie sie. Joana Rosa Candàs Bel, das Miststück. Rosa Bel. Joana hieß Joana Rosa. Die Sekretärin der Schule. Jordi hatte ein Verhältnis mit der Schulsekretärin, der netten Kollegin, der beispielhaften, phantasievollen, aufrichtigen, fähigen, ernsthaften, diskreten, kalten, höflichen, pflichtbewußten, integren, fleißigen, effizienten, verschwiegenen, gebildeten, ehrgeizigen, hinterhältigen, verschlagenen, undurchsichtigen, heuchlerischen, verlogenen, machiavellistischen, bösartigen, verräterischen, hassenswerten, verdorbenen, perversen, infamen, ekelhaften und fiesen Arbeitskollegin Rosa Bel.Tina schaltete den Computer aus, und in ihrer Seele wurde es dunkel.
53
Ein knappes Jahr nach Francos Tod war Marcel Vilabrú Vilabrú, Sohn von Oriol Fontelles Grau (von den Vilabrú- Comelles und den Cabestany Roures) und Rosa Dachs Esplugues (von den Vilabrús aus Torena und den Ramis von Pilar Ramis aus Tírvia, dem Flittchen, besser, wir reden nicht davon aus Rücksicht auf den armen Anselm) zweiunddreißig Jahre alt. Im letzten halben Jahr hatte Senyora Elisenda, seine Mutter, gewisse Freundschaften einschlafen lassen, die sie während des vorhergehenden Regimes gepflegt hatte; die unbequemsten, man könnte sagen, die schlüpfrigsten, (unvermittelt abbrechen wollte sie sie nicht, denn im Grunde genommen sind die Veränderungen, die es geben wird und nach denen das Land verlangt, vernünftigerweise so geplant, daß sich kaum etwas ändern wird), und es war drei Monate her, daß sie eine Audienz beim König erwirkt hatte. Als Empfehlung war ihr dabei zupaß gekommen, daß sie kurzfristig (was für ein Glück, daß ich noch die Fotografen benachrichtigt habe) von einem besorgten, erschöpften Paul VI. empfangen worden war, der geistesabwesend zu ihr gesagt hatte: »Ja, meine Tochter, der Vatikan sieht mit Interesse dein Interesse am Fall des ehrwürdigen Fontelles.« Zur königlichen Audienz brachte sie ihren Sohn mit, den sie dem König als Garanten für die Zukunft des Wintersports vorstellte. Mit einem ehrgeizigen Manöver gelang es ihr, zwar nicht dem Monarchen, aber immerhin dem Königshaus das Versprechen abzuringen, daß sich seine Familie im nächsten Winterurlaub nicht auf den Wiesen von Vaquèira, sondern im großartigen Skigebiet von Tuca Negra in der Gemeinde von Torena vorführen lassen würde. Und als Dank für Ihre ausgezeichnete Vermittlung, Herr Oberst, sind für Sie undIhre Familie für den Rest Ihres Lebens alle Aufenthalte in unserem Skigebiet frei. Amen.
Marcel lernte aus erster Hand, wie man so etwas macht. Er sah, daß es zunächst galt, das Organigramm der Organisation des Opfers genau zu studieren, um herauszufinden, wer die Entscheidungen traf, welche Entscheidungen er zu treffen pflegte und welche Entscheidungen stets auf die lange Bank geschoben wurden. Danach
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