Die Stimmen des Flusses
und wann der Bogen überspannt ist. In allem. Sie ist der berechnendste Mensch, den …«
»Bist du für mich oder gegen mich, Gasull?«
»Ich will das nicht unterschreiben. Das kann ich deiner Mutter nicht antun.«
»Also bist du gegen mich.«
»Nein. Aber ich kann nicht …«
»Du bist gegen mich. Auf Wiedersehen.« Gasull wollte die Terrasse des Büros in Barcelona direkt gegenüber der Pedrera (die von einem Haufen Japaner belagert war) verlassen, aber Marcel hielt ihn zurück: »Wenn du meiner Mutter auch nur ein Wort sagst, bringe ich dich um.«
Mamà tat den ersten Schritt, bevor sie in der Welt der Schatten versank. Nachdem sie von einem besorgten Gasull die Einzelheiten des Umsturzversuches erfahren hatte, dachte sie zwei Tage lang, ich habe alles falsch gemacht, denn ich habe deinen Sohn nicht so großgezogen, wie du es verdient hättest, Oriol. Alles ist so kompliziert, daß ich mich nicht genug um ihn gekümmert habe. Sie tastete nach dem Kreuz und der Kette, um sich zu beruhigen. Marcel hat deine Augen und deine Nase, aber sein Sohn ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Sergi ist eine jüngere Ausgabe von dir.Wenn ich ihn ansehe, verschlägt es mir manchmal den Atem, und damit er es nicht merkt, stecke ich ihm einen zusammengefalteten Geldschein zu, und er lächelt genau so, wie du es tatest, als du mich gemalt hast. Ich kann weder deinen Sohn noch deinen Enkel erziehen, aber ich liebe sie, weil sie ein Teil von dir sind. Sei mir nicht böse für das, was ich jetzt tun muß, Oriol: Das Leben ist nun einmal so. Ich müßte die Kette abnehmen,aber ich habe gelobt, es nicht zu tun, und deshalb tue ich es nicht. Ich liebe dich, Oriol. Nach diesem Gebet rief sie Mertxe zu sich und übergab ihr das Dossier mit den Bordellbesuchen Marcels. Sie deutete an, daß er offensichtlich auch Transvestiten nicht verschmähte, und gab ihr die Karte eines fabelhaften Rechtsanwalts, der ihr bei allen Schwierigkeiten helfen könnte. Als die Schatten sich auch am Tag um sie legten (in der dritten Woche ihres persönlichen Leidenswegs), rief sie Marcel zu sich und sagte: »Ich habe all mein Vertrauen in dich gesetzt, mein Sohn, und nun verrätst du mich; laß dir gesagt sein, daß du von nun an nicht einen Cèntim unseres Vermögens anrühren wirst und von dem leben mußt, was du hast, mit dem Gehalt, das du bei Brusport bekommst und deiner äußerst großzügigen Zuweisung. Ich werde nicht zulassen, daß du deine Krallen nach irgend etwas ausstreckst, das mit Tuca Negra zu tun hat. Du wirst dich auf Brusport beschränken müssen, wie wir es schon vor Jahren vereinbart haben.Außerdem wirst du mich bei jeder Entscheidung, die ein Risiko von mehr als zwanzig Millionen bedeutet, zu Rate ziehen. Und laß dir auch gesagt sein, daß Mertxe dich höchstwahrscheinlich verlassen wird. Oder glaubst du, daß ich verblöde, nur weil es um mich herum dunkel wird? Und wenn du noch einmal andeutest, daß dir mein Interesse an der Seligsprechung des ehrwürdigen Oriol Fontelles nicht paßt, wirst du enterbt.Verstanden?«
Es gibt entscheidende Augenblicke im Leben eines Menschen, und sie kommen früher oder später oder gar nicht, in denen er bereit ist aufzubegehren. Aufbegehren gegen Mamàs Tyrannei. Marcel, der wußte, daß er rebellisch veranlagt war, hatte im Laufe seines Lebens häufig gegen seine Mutter aufbegehrt, zum Beispiel, als er es gewagt hatte, sich in Ramona zu verlieben, die Schriftstellerin werden wollte, oder als er, ohne sie vorher um Rat zu fragen, beschloß, Strümpfe für Bedogni zu entwerfen und sie in Singapur herstellen zu lassen, was ihnen geradezu unanständige Gewinne bescherte und ihm den ersten persönlichen Glückwunschvon Mamà einbrachte. Oder als er allen Anweisungen Mamàs zum Trotz, aufgeschreckt durch subtile, nicht beweisbare Anzeichen, einseitig die Gespräche mit Nishizaki abbrach, und Mamà nach einem gewaltigen Donnerwetter, als der Skandal mit der Nishizaki Group bekannt wurde, klein beigeben und öffentlich anerkennen mußte, daß Marcel recht gehabt hatte. Man kann ihr einfach nicht widersprechen. Und dann noch Gasull, der Schwächling. Nun gut: Dies ist der Augenblick der Rebellion. Jetzt oder nie.
»Ja, Mamà.«
In Marcels Leben änderte sich nichts, außer daß Mertxe ihn verließ, trotz aller Erills, Centelles, Anglesolas und Sentmenats und überhaupt; außerdem regte sich sowieso niemand auf, schließlich läßt sich heutzutage alle Welt scheiden, was ist schon dabei. Ich sage
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