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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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dir, es ist schwieriger, jemanden zu finden, der nicht geschieden ist. Und ich bin jetzt frei. Mertxe verließ die Vilabrús erhobenen Hauptes und mit vollem Geldbeutel, doch ohne Sergi, der bei der Großmutter blieb. Er lebte zwar nicht direkt in Torena, dem neuralgischen Punkt reiner Langeweile, aber er war unter ihrer Kontrolle, auch wenn seiner Mutter ein großzügiges Besuchsrecht eingeräumt wurde, obwohl diese die Familie verlassen hatte. Und Sergi legte die Grundlagen für seine Zukunft als Rebell. Er ist ein echter Rebell, nicht wie ich. Im Winter fährt er nur widerwillig nach Torena, dafür hat er schon sechs Surfbretter aus Titan und Fiberglas (die dritte Generation von Brusport Marina, tolle Bretter) und zwei gravierte Tafeln dafür, daß er bei zwei Meisterschaften unter den ersten fünf gelandet ist, einmal in Gibraltar, das andere Mal am Pazifik, irgendwo bei San Diego. Mit sechzehn, stell dir vor. Das Problem ist die neunte Klasse, die macht er jetzt zum drittenmal. Irgendwas muß man mit dem Jungen machen. Gasull, was meinst du? Sieh mich nicht so an, ich habe dir ja schon verziehen, ich hatte nicht den Mumm, dich umzubringen, wie ich geschworen hatte. Ich brauche dich. Und ich rede lieber mitdir, auch wenn du ein Verräter bist, als mit Mamà reden zu müssen, denn die ist und bleibt Mamà.
    Als Elisenda Vilabrú an einem Mittwoch Ende August wie gewöhnlich morgens um halb sieben erwachte, wunderte sie sich, daß die Morgensonne nicht durch die Vorhänge fiel. Sie schaltete das Nachttischlämpchen ein und dachte im ersten Augenblick, der Strom sei ausgefallen. Sie tastete nach der Glühbirne und merkte, daß diese heiß wurde. Seit Wochen hatte sie nicht mehr gelesen, konnte nichts mehr erkennen, fragte immer, wie viele Leute im Raum waren, tastete die Dinge und die Lage ab und hängte sich bei Ció ein. Noch sah sie; verschwommen und mit Flecken, aber sie sah. An diesem Mittwoch Ende August um halb sieben Uhr morgens schaltete sie die nutzlose Lampe aus und legte sich wieder hin, den Blick an die unsichtbare Zimmerdecke gerichtet. Sie atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, gelassen die Welt der ewigen Schatten zu betreten.

62
    »Die Vilabrú Ramis und die Vilabrú Cabestanys, das heißt, die Vilabrús, von denen Senyora Elisenda abstammt, und die Vilabrús, von denen ihr Mann Santiago abstammte, waren die beiden franquistischen Zweige der Vilabrús.Von Senyora Elisendas Seite waren es die Vilabrús aus Torena, die Vilabrú Bragulats, und seitens ihres Mannes Santiago die Vilabrú-Comelles, die bereits seit drei Generationen in Barcelona lebten und seit Anfang des Jahrhunderts in monarchistischen und konservativen Kreisen verkehrten, vor allem wegen des Zweigs der Comelles, die mit den Aranzos aus Navarra verwandt sind, von denen es immer heißt, sie seien Karlisten gewesen, bevor es den Karlismus überhaupt gab. Ja, ja. Nein, eben gerade seitens der Roures. Die Cabestanys waren, soweit ich weiß, eher lau, Leute, die erst mal zusahen und abwarteten. Aber die Roures waren direkte Cousins der anderen Roures, stell dir vor. Die einen wählten rechts, die anderen links, und an Weihnachten aßen alle zusammen obligatorische Nudelsuppe.«
    »Die Reichen bringen einander wegen solcher Sachen nicht um.«
    »Bis ein Krieg ausbricht. Dann tauchen die Reichen unter, und nur ihr Haß bleibt zurück.Vielleicht bringen sie einander nicht um, aber sie bringen andere um.«
    »Sagst du das wegen Senyora Elisenda?«
    »Das ganze Dorf weiß, daß die drei Männer, die an der Hinrichtung der Vilabrús aus Torena beteiligt waren, von Bürgermeister Targas Hand gestorben sind.«
    »Na und?«
    »Es war, als hätte sie sich gerächt.«
    »Kannst du das beweisen?«
    »Nein, aber ein seltsamer Zufall ist das schon. Ich dachte eher, Targa und sie hätten sich auf den Tod gehaßt. Ich weiß es nicht, ich war noch so jung … und ich hatte andere Sachen im Kopf. Aber hier im Dorf wird gemunkelt, daß es so war. Und sieh mal …« Jaume Serrallac schwieg einen Moment, dann fuhr er fort, als wäre es ihm plötzlich wieder eingefallen: »Ich war einer der letzten, die den Lehrer lebend gesehen haben.«
    »Was?«
    »Ja. Sie haben mich geschickt, ihn in der Schule zu holen, am Abend, vor dem Essen.«
    »Wer?«
    »Targa.«
    »Hej du, Lausebengel, komm mal her.Wie heißt du?«
    »Jaumet.«
    »Zu wem gehörst du?«
    »Zu den Serrallacs.«
    »Dem Steinmetz?«
    »Ja, Senyor.«
    »Lauf zur Schule und sag dem Lehrer, er soll

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