Die Stimmen des Flusses
über die Menschen.«
Tina machte sich über die Lammwurst her, während der Kellner ihnen einen gewaltigen Salat brachte.
»Erzähl mir mehr von den Vilabrús.«
Serrallac schenkte sich einen ordentlichen Schluck Wein ein und fuhr fort: »Ich rede von den franquistischen Vilabrús, den drei Brüdern, und der Vilabrú, die ins Exil gegangen ist, der kleinen Schwester. Ich kenne sie, weil sie alle irgendwann mal nach Torena raufgefahren sind. Reich geworden sind die drei faschistischen Brüder. Und es heißt, der größte Nichtsnutz der drei sei Santiago gewesen. Er hatte nichts als Sex im Kopf, deshalb ist er auch gleich, als sie aus San Sebastián zurückkamen, nach ein paar schrecklich langweiligen Wochen in Torena nach Barcelona geflüchtet, zu seinen geliebten Huren und all den verheirateten und unverheirateten Frauen, die sich gerne von ihm einen Mittelscheitel ziehen ließen.«
Tina prustete los, und da sie den Mund voll hatte, war das Ergebnis katastrophal.
»Ich habe dir ja schon gesagt, daß du ein halber Dichter bist.« Sie wischte sich mit der Serviette ab.
»Wir Steinmetze haben von den Totengräbern eine gewisse Vorliebe für billige Philosophie geerbt. Aber Poesie … Ich kenne nur die Verse, die ich auf einige Grabsteine schreibe.«
Er ging auf den Salat los wie auf seinen ärgsten Feind. Als er den Mund wieder leer hatte, sagte er: »Kurz gesagt: eine Familie mit viel Geld. Und Senyora Elisenda verfügt über eines der größten Vermögen dieses Landes.«
»Trotzdem hat sie sich nie aus Casa Gravat fortgerührt.«
»Sie ist mehr gereist als du und ich und das ganze Dorf zusammen.«
»Nein, ich meine, sie lebt dort.«
»Und warum nicht? Ich lebe auch in Torena.« Er suchte ineinem zerknitterten Päckchen nach einer Zigarette und sah sie ernst an. Dann zog er den Reißverschluß seiner Mappe auf, nahm einen dicken Umschlag heraus und gab ihn Tina: »Sind die Papiere des Lehrers echt?«
Noch nie habe ich jemanden so schnell essen sehen, dachte Tina.
»Natürlich sind sie echt.«
»Dann ist das alles eine verdammte Scheiße. Entschuldige.«
»Ja, es ist eine verdammte Scheiße.«
»Das ist zu lange her. Es interessiert niemanden mehr.«
»Mich.«
»Mit dir hat das alles nichts zu tun.«
»Ich habe den Brief bekommen, den ein Mann vor über fünfzig Jahren geschrieben hat.«
»Gib ihn dem Sohn des Lehrers, und das war’s.«
Serrallac wühlte in seiner Mappe und förderte eine Visitenkarte von »Marbres Serrallac, S.L.« zutage. Auf die Rückseite war etwas geschrieben.
»Die Adresse von Marcel Vilabrú.«
Tina nahm die Karte. In einem Ton, der ihr nicht gefiel, fuhr Serrallac fort: »Und jetzt? Wirst du hingehen und ihm sagen: ›Sehen Sie mal, Senyor Vilabrú, Sie sind nicht der Sohn Ihrer Mutter, sondern einer anderen.‹ Und er wird sagen: ›Ach, wie schön.‹ Willst du das wirklich so machen? Ohne jeden Beweis?«
»Mehr oder weniger. Mir wird schon was einfallen.«
»Ich wünschte mir, jemand würde mich mit derselben Überzeugung lieben, die du auf diese Sache verwendest.«
»Ich habe ausgeliebt.«
»Warum machst du das dann?«
»Ich weiß es nicht.Vielleicht, damit der Tod nicht das letzte Wort hat.«
Serrallac tat einen tiefen Zug und schüttelte lächelnd den Kopf. Tina betrachtete ihn verwundert, beinahe gekränkt: »Was ist los? Bist du denn nie traurig?«
Das letzte Mal war Serrallac traurig gewesen, als er vor ein paar Jahren im Fernsehen eine Reportage über den Friedhof von Genua, den Zentralfriedhof von Wien und den Père- Lachaise von Paris gesehen hatte. »Da fand ich, es reicht. Ich kenne die Friedhöfe von Sort, Rialb, ganz Batlliu, vom Vall d’Àssua, Tírvia und den drei Tälern; ich habe auf ihnen gearbeitet, und keiner von ihnen läßt sich mit dem Friedhof von Torena vergleichen.Aber nachdem ich das im Fernsehen gesehen hatte, war ich deprimiert. Und ich dachte, daß es eigentlich eine ziemlich dumme Beschäftigung ist, die Namen von Leuten und die genaue Länge ihres Lebens in Stein zu meißeln.«
»Ihr macht doch auch andere Sachen.«
»Wir machen vor allem andere Sachen. Aber ich mache nun mal am liebsten Grabsteine.«
»In dem Buch habe ich geschrieben: Etwa hinter der Ortschaft Gerri verläuft die Grenze zwischen den Häusern mit Ziegeldach und denen mit Steindach.«
»Das stimmt nicht so ganz, aber ich sehe nicht, was das mit meinen Problemen zu tun hat.«
»Es ist auch die Grenze zwischen den Friedhöfen mit Nischengräbern und denen mit
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