Die Stimmen des Flusses
eigenen Leute erledigt haben, bevor ich es tun konnte.«
»Davon hat mir Senyora Elisenda gar nichts erzählt.«
»Siehst du sie oft?«
»Nein. Ich habe ihr mit Rosa einen Besuch abgestattet. Warum?«
»Nur so.«
»Nun, sie spricht nicht darüber, aber sie hat Fotos. Fotos von ihrem Vater und ihrem Bruder.«
»Sie will nicht darüber sprechen, weil sie einen Schlußstrich unter die ganze Sache ziehen will.«
Er zündete die Zigarette an und rauchte eine Zeitlang schweigend. Dann sagte er: »Sie haben ihnen ein Seil um den Hals gelegt und sie zum Hang von Sebastià geschleift. Als sie dort ankamen, war Senyor Vilabrú tot. Aber Josep, der arme Junge, hat noch gelebt, und sie haben ihn mit Benzin übergossen. Leute aus dem Dorf waren an dem Mord beteiligt.«
»Wirklich?«
»Drei Mörder und ein paar Dutzend Leute, die keinenFinger gerührt haben. Die Bringués, die Gassias, die aus der Familie von Ignasis Maria …«
Nun stand Oriol am Fenster von Casa Gravat, von einer unerklärlichen Schwermut überkommen, und sah zu, wie das Licht draußen langsam schwächer wurde. Da trat Senyora Elisenda ein, schöner denn je. Sie lächelte ein wenig befangen, aber Oriol bemerkte, daß sie sich als erstes mit einem raschen Blick vergewisserte, daß er seine Malutensilien mitgebracht hatte.
»Wo soll ich mich hinsetzen?«
Wie kommt es nur, daß diese Frau, so jung sie ist, aussieht wie eine Göttin und mir die Worte im Hals steckenbleiben, so daß ich ihr nicht einmal sagen kann, setzen Sie sich hierhin, auf diesen Stuhl, so, drehen Sie sich zu mir, ja.
Elisenda trug Ohrringe mit Diamanten, die bei der leichtesten Kopfbewegung funkelten, und Oriol fühlte sich geblendet. Er stammelte, eigentlich sei er eher Zeichner als Maler.
»Das Porträt, das Sie von Rosa gemalt haben, ist einfach wundervoll.«
»Danke.«
Oriol war wie gelähmt, denn nun drang der Duft ihres Körpers an seine Nase, vermischt mit ihrem Parfüm. Narde, hatte Rosa ihm gesagt, ohne zu ahnen, daß er schon seit zwei Nächten von diesem Parfüm träumte.
Oriol bereitete die Farben, die Palette und die Pinsel vor und bemühte sich, nicht nach vorne zu sehen; er war nervös, denn es war das erste Mal, daß sie miteinander allein waren. Bisher war er immer mit Rosa in Casa Gravat zu Besuch gewesen, und immer war noch irgend jemand anwesend gewesen. Jetzt nicht. Elisenda war wunderbar, strahlend, der Raum war von Nardenduft erfüllt, vor ihm stand eine leere Leinwand. Mit zitternden Fingern öffnete er die Farbtuben. Dann sah er zu Elisenda hinüber. Zu seiner Kundin.
»Und sie wird es dir bezahlen?«
»Das hat sie gesagt.«
»Wieviel?«
»Ich habe ihr keinen Preis genannt. Ich weiß einfach nicht, wieviel ich von ihr verlangen kann. Aber sie hat darauf bestanden, mich zu bezahlen.«
Rosa steckte die Nadel in das Hemd, hängte es über den Nähkorb und legte ihre Hand auf den Bauch, um die Bewegungen des Kindes zu spüren. Sie sah Oriol mit ihren traurigen Augen an und sagte: »Sag ihr, du willst fünfhundert Peseten.«
»Meinst du?«
»Ja. Wenn du weniger verlangst, sieht es so aus, als wärst du nicht wichtig.«
»Ich bin nicht wichtig.«
»Sechshundert.«
Oriol fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Wie verlangte man sechshundert Peseten von einer so schönen Frau?
»Sechshundert«, beharrte Rosa. »Und verlang sie auch wirklich, du bist imstande und sagst nichts.«
»Hör mal …«
»Sechshundert, Oriol.«
Er mußte sechshundert Peseten von ihr verlangen. Jetzt? Nach der Sitzung? Morgen? Nie?
»Sitze ich so richtig?«
Du bist perfekt.
»Wenn Sie gestatten …«
Oriol trat auf sie zu, betäubt vom Nardenduft, nahm ihren Arm und legte ihn sanft auf die Armlehne des Stuhls; dann faßte er ihr Kinn und drehte ihr Gesicht ein wenig zur Seite. Vielleicht täuschte er sich, aber ihr Körper war wie elektrisch geladen. Als er ihren Arm ergriff, glaubte er in ihren Augen eine unterdrückte Angst zu erkennen.
»Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich porträtieren lasse.« Ihre Stimme bebte ein wenig.
Am liebsten würde ich dich nackt malen. Würdest du das zulassen?
»Wissen Sie was? Heute machen wir nur … Heute macheich nur einen Entwurf. Und ein paar Pinselstriche, um zu sehen, wie das Licht ist …«
Ich wage nicht, dich zu fragen, weil es unmöglich ist, aber am liebsten würde ich nackt für dich sitzen. Du hast feine Hände und siehst mich auf diese ganz besondere Weise an. Faß mich nicht noch einmal an, sonst
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