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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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    »Mein Mann hat es sich in den Kopf gesetzt, und bevor ich einen Unbekannten kommen lasse, dachte ich …«
    Warum habe ich deinen Mann noch nie gesehen? Warum hast du nicht mal ein Foto von ihm? Warum will er dich porträtieren lassen?
    Oriol ließ ihren elektrisierten Arm los, betrachtete sie verstört aus zwei Schritt Entfernung und kehrte mit klopfendem Herzen zur Staffelei zurück. Er warf ein paar Kohlestriche aufs Papier und wurde langsam ruhiger.
    »Wissen Sie schon, wieviel das kosten soll?«
    »Nun ja … Ich … Wir müssen nicht …«
    »Ich bestehe darauf. Wenn Sie kein Geld nehmen, sitze ich Ihnen nicht.«
    »Sechshundert«, murmelte er beschämt.
    »Wie bitte?«
    »Fünfhundert.«
    »Sehr schön. Ich dachte, ehrlich gesagt, es wäre teurer.«
    Dummkopf. Esel. Blödmann.
    Sie schwiegen. Die Minuten vergingen, versahen die Landschaft vor dem Fenster mit dunklen Pinselstrichen, während Oriol mit der Kohle ein weibliches Profil zu Papier brachte.
    »Haben Sie ein Buch hier?« fragte er angeregt, denn nun wußte er, wie das Bild werden sollte. »Ach, egal: Nehmen Sie ein Foto zur Hand, so, wie ein Buch. Genau.«
    Die Brillanten in ihren Ohrringen funkelten bei der kleinsten Bewegung. Sie hat einen wunderbaren Hals. Er hat Malerhände und eine breite Stirn. Und die Stimme.
    Oriol ging auf Senyora Elisenda zu und nahm ihr das Foto aus der Hand. Ein Priester mit Soutane und einem dicken wollenen Umhang, mit einer schweren Uhrkette im drittenKnopfloch und einem Buch in der Hand. Ein freundliches Gesicht mit einem leicht spöttischen Lächeln. Er saß an dem Gartentisch, der auch auf anderen Fotos zu sehen war. Ihm zur Seite stand Hauptmann Anselm Vilabrú in Zivil; er sah streitlustig in die Kamera, wirkte aber ebenso liebenswürdig wie der Priester. Beide blickten zufrieden drein.
    »Halten Sie es so wie ein Buch, in dem Sie lesen.«
    »Das kommt mir komisch vor.«
    »Dann erzählen Sie mir etwas. Erzählen Sie mir, wer die beiden auf dem Foto sind.«
    Während Oriol an die Staffelei zurückkehrte, begann Senyora Elisenda bereitwillig: »Das ist mein Vater mit Onkel August, seinem Bruder. Mein Vater ist der jüngere, ich meine, er war der jüngere.« Sie klopfte mit dem Finger zwei-, dreimal auf die Gestalt des Priesters: »Er ist vor kurzem aus Rom zurückgekommen. Er mußte fliehen, als … Nun, an dem Tag, an dem mein Vater ums Leben kam.« Sie betrachtete das Foto aufmerksam, als sähe sie es zum ersten Mal: »Und dabei hat er ihn so geliebt.«
    Hochwürden August Vilabrú legte das Buch auf den Tisch, bedeutete dem Fotografen mit einer knappen Geste, den Garten zu verlassen, und bat seinen Bruder, sich zu setzen. Die Liebenswürdigkeit der beiden Brüder schmolz wie Schnee in der Sonne.
    »Ich möchte dich über die Fortschritte deiner Tochter informieren.«
    »Ich versichere dir, die sind mir völlig gleich. Elisenda ist nur ein Mädchen. Ich wünschte, Josep wäre intelligenter.«
    »Mein Gott, Anselm. Wieso bist du nur so voller Haß?«
    »Du hast kein Recht, mir das vorzuwerfen.«
    »Ich glaube schon. Ich bin sieben Jahre älter als du, Priester und Theologe.«
    »Du bist ein Mathematiker in Soutane, der sich nur für Differentialquotienten und Integrale interessiert. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man auf dem Schlachtfeld steht und Angst hat.«
    »Heilige Mutter Gottes … Auf dem Schlachtfeld …«
    »Tu nicht so scheinheilig! Die Bibel ist voller Blut, Tod und Schlachten.«
    »Du weichst mir aus.«
    »Keineswegs.« Anselm Vilabrú, der fünf Monate zuvor aus der Armee entlassen worden war, richtete sich kerzengerade auf und sagte schneidend: »Du wirst nie erfahren, wie das ist, wenn dir aufgrund unsinniger Befehle sechzig Männer in Igueriben abgeschlachtet werden.«
    Hochwürden August schwieg. Sein Bruder fuhr fort: »Unter uns gesprochen: Mein ärgster Feind ist nicht das marokkanische Heer bei Igueriben oder Al-Hoceima, es ist nicht einmal Mohammed Abd el-Krim, der Verräter. Mein Feind ist König Alfons XIII., der verdammte, hohlköpfige Hurensohn, der in dem Raum, in dem er immer Krieg spielt, einen sorgfältig manikürten Finger auf einen bestimmten Punkt der Karte gelegt und gesagt hat: ›Hier will ich das Heer haben. In Al-Hoceima.‹ Und seine Berater haben ihm widersprochen: ›Aber Majestät, das sollte die Heeresführung wissen.‹ Und dieser Schweinehund von König …«
    »Würdest du bitte diese Ausdrucksweise unterlassen? Du beleidigst meine Ohren.«
    »Nun gut:Als

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