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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Was hatte das Leben mit ihnen vor?

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    Am 21. Juni 1962 ging Marcel Vilabrú Vilabrú zum letzten Mal in seinem Leben die sechs Stufen des Haupteingangs des Internats Sant Gabriel hinunter (eine Schule in bester Lage, die Ihren Kindern eine umfassende körperliche, geistige und seelische Ausbildung ermöglicht). Hinter ihm lagen sechs Jahre Grundschule, siebte Klasse, achte Klasse, neunte Klasse (wobei er zwei Fächer der achten wiederholen mußte), zehnte Klasse (mit einem Fach der achten und einem der neunten), Abschlußprüfung der zehnten Klasse, was soll der Junge nur machen, den humanistischen oder den naturwissenschaftlichen Zweig, was willst du machen, was ist das Beste für dich, ich werde dir sagen, was das Beste für dich ist. Ich würde gerne Naturwissenschaften machen. Nein: Du wirst den humanistischen Zweig besuchen. Ich wollte aber … Was hast du schon zu wollen. Aber ich wollte doch … ich weiß nicht, irgendwas, was mit den Bergen zu tun hat, den Wäldern, dem Schnee … Nun sei mal realistisch, Marcel: Du besuchst den humanistischen Zweig, dann wirst du Rechtsanwalt und kannst dich um die Geschäfte der Familie kümmern, die haben schließlich mit Schnee zu tun, wenn ich dich mal daran erinnern darf. Das ist nicht dasselbe, ich würde gern … Sieh mich an: Ich bin Rechtsanwalt, und bei mir läuft alles bestens. Und was sagt Mamà dazu? Sie will, daß du Rechtsanwalt wirst, schließlich bist du in Mathe und Physik immer durchgefallen. Dann soll sie es mir selber sagen. Sie ist sehr beschäftigt; also abgemacht, du besuchst den humanistischen Zweig. Elfte Klasse (zweimal durchgefallen in Latein und Griechisch), zwölfte Klasse (Latein und Griechisch der elften wiederholt), zweimal die Abschlußprüfung für die zwölfte, Abitur erster Anlauf, Abitur beim zweitenAnlauf und die Aufnahmeprüfung für die Universität. Er ging die sechs Stufen hinunter, und anstatt sich umzudrehen und sich wehmütig der schönen Augenblicke zu entsinnen (erinnerst du dich an unsere Streiche oder an die Turnstunden im dichten Nebel der Hochebene von Vic, nein, war doch prima, oder?), wartete er darauf, daß Rechtsanwalt Gasull in Begleitung der Schulleiterin, Senyora Pol, herauskam, die gerade sagte: »Damit wäre die Ausbildung dieses jungen Mannes sozusagen abgeschlossen, nun tritt er hinaus ins Leben.« Als beide neben ihm standen und Romà Gasull sich herzlich von Senyora Pol verabschiedete, spuckte Marcel Vilabrú Vilabrú ostentativ aus und ging zum schwarzen Wagen hinüber, wo Jacinto schon seit geraumer Zeit in einer dänischen oder norwegischen Zeitschrift mit leichtbekleideten Mädchen blätterte. Marcel Vilabrú wandte sich nicht um zu dem Gebäude, in dem er gelernt hatte, zu rechnen, zu lügen, zu masturbieren, die fünf lateinischen Deklinationen einigermaßen passabel herunterzurasseln, andere zu verraten, um der Strafe zu entgehen, mit einem scheußlichen Akzent Ô rage, ô désespoir zu deklamieren, und wo er verstanden hatte, daß seine Mutter eine vielbeschäftigte Frau war, die alle Männer befehligte, die sie umgaben, ihn eingeschlossen, und die seit dem Tod seines Vaters nicht mehr sprach, sondern sich darauf beschränkte, Anweisungen zu erteilen, die immer knapper und präziser wurden, und die erwartete, daß diese Anweisungen genauestens befolgt wurden.
    Auf der Heimfahrt schwiegen die drei Männer (denn laut Senyora Pol war er ja schon ein Mann), und er dachte, daß er jedesmal, wenn er nach Hause zurückkehrte, von Männern wie Jacinto und Gasull umgeben war. Gasull hatte er öfter gesehen als Papà. Tatsächlich hatte er von den wenigen Malen, die er Papà gesehen hatte, nur dessen prüfenden Blick in Erinnerung, wenn er glaubte, Marcel träume, das Gefühl, daß Papà ihn nicht liebte, daß er in seinem Leben keinen Platz hatte.
    »Warum ist Papà so seltsam?«
    »Er ist nicht seltsam.«
    »Er sieht mich immer so seltsam an.«
    »Das bildest du dir nur ein, mein Sohn.«
    »Warum ist er nie zu Hause?«
    »Er ist sehr beschäftigt.«
    »Papà ist sehr beschäftigt, du bist sehr beschäftigt. Das ist alles Mist.«
    Zum erstenmal erwog Elisenda, die Erziehung ihres Sohnes in andere Hände zu legen. Vielleicht war das Sant Gabriel nicht der geeignetste Ort für ihn, und diese Schule in Basel, von der ihr Mamen Vélez berichtet hatte, wäre doch besser gewesen. Aber bei all der Aufregung dachte sie einfach nicht mehr daran. Am sechsten November 1953 – Marcel war gerade neun – war Santiago

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