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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Vilabrú einem Herzinfarkt erlegen. Immerhin war er taktvoll genug gewesen, nicht im Nidito oder irgendeinem anderen Puff zu sterben, und auch nicht in den Armen irgendeiner untreuen Gattin, sondern in den Geschäftsräumen der staatlichen Gewerkschaft Sindicato Vertical. Es war ein kalter Tag, und er hatte gemeinsam mit Nazario Prats, dem Zivilgouverneur und Provinzchef des Movimiento in Lleida, Agustín Rojas Pernera einen Besuch abgestattet. Nazario und er hatten sich im dritten Stock verabredet, um diesem Halunken von Rojas Pernera ordentlich einzuheizen, denn der hatte sich den Gewinn aus einem Geschäft, halb Schmuggel, halb Betrug mit dem Verkauf amerikanischen Milchpulvers, unter den Nagel gerissen. Die brillante Operation war Vilabrús Idee gewesen und dank Prats’ Kontakten zustande gekommen. Und dann hatte Pernera, der Halunke, den gesamten Gewinn eingesackt. Als sie jetzt vor ihm standen, lächelte er dreist, hinter sich die Bilder von Franco und José Antonio, die ihn schützten. Er sah sie an, warf einen prüfenden Blick auf die Milchglasscheibe, die zwischen ihnen und dem Korridor lag, und sagte: »Was für ein Gewinn, was für eine Operation, meine Freunde, Kameraden? Hier ist nichts von einer Operation bekannt. Weder hier noch sonstwo.« Daß er log, daß er ein Schweinehundwar, das ging ja noch. Aber was Vilabrú nicht ertrug – nach all dem, was er sich in seinem Leben hatte gefallen lassen müssen, vor allem von seiner Frau –, war ein weiteres boshaftes Lächeln, und so starb er. Er brach zusammen, vor dem Tisch dieses Mistkerls von Pernera und vor Gouverneur Prats, der rasch hinausging, ohne sich zu vergewissern, ob es sich um Ohnmacht, Schwindel, Übelkeit, Infarkt oder Tod handelte. Er wollte im Büro von Pernera nicht mit einem Toten gesehen werden, und so ließ er Vilabrú liegen; wenn’s ihm bessergeht, sehen wir uns wieder, und wenn er tatsächlich tot sein sollte, werde ich von Pernera auch noch seinen Anteil verlangen. In gewisser Weise habe ich ein moralisches Anrecht darauf.
    Elisenda und ihr Sohn gingen in Barcelona an der Spitze des Trauerzugs. Sie verbarg ihre Gleichgültigkeit hinter dem Schleier und dachte, du hast gut daran getan, zu sterben, Santiago, denn du hast in meinem Leben so wenig Spuren hinterlassen, daß ich dich nicht einmal gehaßt habe. Das einzig Gute, das ich in dreizehn Jahren Ehe an dir gefunden habe, war, daß du Vilabrú heißt wie ich.
    Die Vilabrús vom großen Zweig der Vilabrú-Comelles, die bereits seit drei Generationen in Barcelona lebten, die konservativsten Zweige der Familie, die Franquisten und diejenigen, die früher Monarchisten und noch davor Karlisten gewesen waren, vor allem die vom Stamm der Comelles, die mit den Aranzos von Navarra verwandt waren, von denen behauptet wurde, sie seien Karlisten gewesen, bevor es den Karlismus überhaupt gab – sie alle waren sehr betrübt über Santiagos Tod. Gerade gestern habe ich noch mit ihm telefoniert, und da schien es mir gar nicht, als ob … Die Besten gehen immer zuerst. So ist das Leben, wer hätte das gedacht. Denk nur, nächste Woche war ich mit ihm verabredet. Was für ein sinnloser Tod. Neun Jahre ist der Junge alt? Stell dir vor, neun Jahre, das arme Kind, und schon ohne Vater. Und ohne den Adelstitel, sagt man. Ja. Und Elisenda wirkt ziemlich steif, findet ihr nicht? Hör mal, schließlich ist ihr Manngerade gestorben. Nein, das meine ich nicht. Elisenda ist eine von denen, die durch die Leute hindurchsehen, die sie gar nicht wahrnehmen.
    »Mein herzliches Beileid, Senyora Vilabrú«, sagte Don Nazario Prats, neben dem Landwirtschaftsminister und den Stadtverordnetenvorsitzenden von Barcelona und Lleida den wichtigsten der Würdenträger, die sich schließlich eingefunden hatten.
    »Ich danke Ihnen.«
    Nachdem sie dem einzigen anwesenden Minister traurig zugelächelt hatte, neigte sie sich zum Gouverneur hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Santiagos Anteil hat allein ihm gehört, und jetzt gehört er mir, wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie verpfeife.«
    Don Nazario wischte sich die verschwitzten Hände und beschränkte sich darauf, Senyora Vilabrús Hand zu küssen, und die Anwesenden, die nicht zur Familie gehörten, sagten: »Sie ist eine echte Dame, warum nur verkriecht sie sich in der Wildnis, in den Bergen?«
    Und darum hatte Marcel den Tod seines fremden Vaters nicht beweint und war nicht in Basel zur Schule gegangen, sondern hatte sich durch seine Schulzeit im Internat Sant

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