Die Stimmen des Flusses
Ramis aus Tírvia aus Casa Gravat und aus Bibianas Leben und aus dem Leben des Mädchens und Joseps verschwunden, die oben schliefen, sowie aus dem Leben ihres Mannes, der in Afrika Mauren tötete. Bibiana war nicht in der Lage gewesen, zu schreien und den Schutzengel zu warnen. Während sie die Tür geschlossen hatte, hatte sie bloß überlegt, wie sie es dem Mädchen und Josep beibringen solle.
Bibiana sammelte die Schnipsel des Briefes auf, warf sie ins Herdfeuer und vergewisserte sich, daß die Erinnerung an diese Frau für immer verschwand und ihrem Kind und dem Andenken des armen Josep und des unglücklichen Senyor Anselm nicht mehr schaden konnte.
»Was machst du da?«
»Nichts, ich koche mir einen Lindenblütentee«, antwortete die Hausangestellte. »Möchtest du welchen?«
Elisenda erfuhr nie, daß der Tee, den sie an diesem Abend trank, auf den letzten Nachrichten von ihrer schattenhaften Mutter aufgebrüht worden war.
25
Die ganze Nacht tat er kein Auge zu, saß in der Schule und wartete auf Senyor Valentí und seine Falangisten. Würden sie an die Tür hämmern? Würden sie die Fenster des Klassenzimmers einschlagen? Nein: Sie würden hereinkommen und sofort losfeuern. Die Stunden verstrichen quälend langsam. Als die eisige Sonne über dem Paß von Cantó aufging, hatte noch niemand den Frieden der Schule gestört, die Zuflucht des geächteten Oriol Fontelles, ehemals Feigling und neuerdings unfähiger Kämpfer für eine verlorene Sache.
Gegen Mittag, als die Kinder zum Essen gegangen waren, ließ sich Senyor Valentí blicken. Lebendig. Das Genick unversehrt, eine dicke Zigarette zwischen den Lippen und feuchte Augen, blauer und kälter als sonst, die alles durchdrangen. Oriol fragte sich: Wird er mich gleich umlegen, oder wird er viel Aufhebens darum machen? Er ist in der Lage und erledigt es auf dem Platz. Oder nein, natürlich am Hang von Sebastià. Damit wären es dann achtzehn.
Senyor Valentí betrat schweigend das Klassenzimmer und sah Oriol einen Augenblick lang prüfend an. Dann nahm er die Hand aus der Tasche und zeigte auf ihn: »Heute machen wir eine Sitzung, ich will, daß das Bild fertig wird.«
»Aber …«
»Um sechs.«
Und nichts weiter. Keine Anmerkung. Porträtsitzung. Nicht einmal, stell dir vor, was mir gestern passiert ist. Nichts. Von diesem Augenblick an wagte Oriol es nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen. Dabei habe ich doch auf seinen Nacken gezielt.
Als sich Oriol nach dem Mittagessen zum Verdauungsschnaps gehorsam an den Tisch des Bürgermeisters setztewie jeden Tag, fragte dieser ihn nebenhin: »Wo warst du gestern?«
»In Lleida. Warum?«
»Im Puff?«
»Na ja …« Er wartete, bis Modest ihn bedient hatte, und als sie wieder allein waren, sagte er leise: »Ja, im Puff.«
Als habe er keine andere Antwort erwartet, trank Valentí Targa sein Glas in einem Zug aus und stand auf. Er ging ohne ein Wort, als ob ihn seine Gedanken fortzögen. Und Oriol fühlte sich schutzlos.
Tina hörte Doktor Schiwago noch einmal gähnen und beneidete ihn aufs neue, denn wenn er gähnte, dachte er nur ans Gähnen und dann daran, sich die Barthaare zu putzen, während sie nun, da sie dabei war, einen Höhepunkt von Oriol Fontelles’ Leidensweg in den Computer zu übertragen, an Doktor Schiwagos Gähnen dachte, daran, daß sie ihn beneidete, weil sie nicht Juri war, an Jordi, der alle ihre Träume verraten hatte, denkst du nicht mehr an den Kuß, den wir uns gaben, als wir nach Taizé fuhren, an den Treueschwur, denkst du nicht mehr daran, Jordi? Und deine Loyalitätsbekundung im Zug nach Paris? Und sie dachte auch daran, was Arnau in diesem Augenblick wohl tun mochte. Mein Gott, hoffentlich verdreht er nicht die Augen und spricht mit dieser künstlichen, salbungsvollen Stimme, und hoffentlich ist er ein netter Kerl geblieben, amen. Nachdem der letzte Schüler gegangen war, nachdem er die Tafel ordentlich saubergewischt und die Asche aus dem Ofen geholt hatte, ging Oriol in die Toilette, um sich den Kreidestaub des Tages von den Händen zu waschen. Das Wasser war fast unerträglich kalt, aber er ließ es eine Zeitlang rinnen, damit die Kreide sich löste und die Hände nicht rissig wurden. Und während er sie langsam und energisch am schmutzigen Handtuch abtrocknete, betrachtete er sich im angelaufenen Spiegel, denn er wußte nicht, was er tun sollte, ob er auf das Exekutionskommando warten oder schnell zu Rosa laufen sollte, vonder er nicht wußte, wo sie war, ob er vor ihr
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