Die Stimmen des Flusses
dem Leichnam dieses Kämpfers nicht vergebens war. Auf dem Rückweg zur Basis hat der Trupp den ganzen Tag auf dem Dachboden der Schule gewartet, bis es dunkel genug war, um weiterzuziehen. Es bereitet mir eine tiefe Angst, zwei, drei oder bis zu zwanzig Männer oben auf dem Dachboden zu wissen, während ich den Kindern erkläre, was ein qualifizierendes Adjektiv ist. Und noch mehr angst macht es mir,Valentí Targa oder seine Männer zu sehen, wie sie durchs Dorf streifen oder von weitem zum Fenster des Klassenzimmers herübersehen, als ahnten sie etwas von meinem doppelten Spiel. Weißt Du, ich schreibe, um mir die Angst zu vertreiben, um nicht vor Sorge zu vergehen:Wichtiger als mein Leben zu retten ist mir, Dir alles berichten zu können, was ich tue, so daß Du es verstehen kannst, wenn Du einmal größer bist. Ich hoffe, daß Du niemals einen Krieg erleben wirst, mein Kind. Nun ja. Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, möchte ich Schriftsteller oder Maler sein. Wenn ich male oder schreibe, fühle ich mich lebendig.
Vor kurzem hatte ich für zehn Nächte eine jüdische Familie hier, die aus Lyon geflohen war. Sie hatten einen sehr braven Hund dabei, der Achille heißt und den ich in Aquil·les umgetauft habe. Es waren stille, höfliche, schweigende Menschen. Alle vier waren am Ende ihrer Kräfte. Der Weg durch die Berge ist beschwerlich für einenvierzigjährigen Rechtsanwalt, der nie körperliche Arbeit verrichtet hat, oder für eine Hausfrau Mitte Dreißig, vor allem aber für die beiden Kinder. Sie hatten Glück, daß der Führer, der sie hier abholen sollte, verspätet war, so konnten sie sich wenigstens erholen. Unsere Führer sind einheimische Schmuggler, die die Berge besser kennen als ihr Schlafzimmer. Die meisten von ihnen haben ihr Handwerk am Paß von Salau erlernt. Entweder sind es Einheimische oder Franzosen, aber alle sind aus dem gleichen Holz geschnitzt: mürrisch, maulfaul, mit wachem Blick, nicht alt und nicht jung, unglaublich zäh, immer auf das Geld bedacht, das sie verdienen, wenn sie einen Flieger oder zwei bezopfte jüdische Mädchen über die Grenze bringen, und bereit, gegebenenfalls ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ja, sie riskieren ihr Leben, aber ich traue ihnen nicht ganz, denn schließlich sind sie Schmuggler. Wer sich hier über die Dorfgrenzen hinaus im Gebirge auskennt, ist ein Schmuggler.
Die beiden Kinder. Ich war beeindruckt von der Disziplin der beiden Kleinen. Es waren zwei Jungen von sechs und sieben,Yves und Fabrice, die einzigen Namen, die man mir nannte außer dem Namen des Hundes. Ihre Augen waren immer weit aufgerissen, vor Angst oder Erstaunen, denn es muß ihnen schwergefallen sein, zu verstehen, daß ein Unhold sie töten und fressen wollte wie im Märchen. Aber Aquil·les schien zu verstehen, was auf dem Spiel stand, denn er hielt den ganzen Tag still, lauschte und sah mir zu, wenn ich auf den Dachboden hinaufstieg, um ihnen das Essen zu bringen, und mit ihren Fäkalien wieder herunterkam. Obwohl er ständig Wache zu halten schien, bellte er niemals, ja knurrte nicht einmal. Er hatte begriffen, daß ich zu ihnen gehörte. Kann ein Hund verstehen, daß es Menschen gibt, die schlimmer sind als wilde Tiere, und daß er die Seinen beschützen mußte? Jedenfalls wußte Aquil·les genau, daß das Leben der Kinder davon abhing, daß er still blieb. In der zweiten Nacht wurden Aquil·les und ich gute Freunde: Die ganze Familie schlief, und er und ich durchstreiften die Schule, sahen ausdem Fenster und vertrauten uns einander an. Ich erzählte ihm von Dir, und er wedelte mit dem Schwanz. Ich sagte ihm, Du hättest noch keinen Namen, und er wedelte noch heftiger, als wüßte er sehr wohl, wie Du heißt. Er leckte mir die Hände und das Gesicht, als hätte er mich verstanden. Nach ein paar Tagen angespannten Wartens nahm ein neuer Führer, mürrisch und schweigsam wie die anderen, sie über La Pobla mit nach Barcelona. Von dort aus wollten sie weiter nach Portugal, ein Weg, der körperlich nicht so anstrengend, aber genauso gefährlich war. Als die Gruppe in der kalten Nacht verschwand, warf mir Aquil·les einen Blick zu, den ich bis heute nicht vergessen habe. Fabrice und Yves küßten mich wortlos. Ihr Vater, der immer traurig aussah, wollte mir seine Uhr als Belohnung geben, der Arme. Mein Lohn, liebste Tochter, ist der Stolz, zur Rettung einer ganzen Familie beigetragen zu haben. Ich werde versuchen, den Hund zu malen, damit Du ihn Dir vorstellen kannst, wenn Du
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