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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Männer vermieden es, mit irgend jemandem über ihren makabren Fund zu sprechen, sogar mit ihren Frauen, denn in Zeiten wie diesen war es besser, denMund zu halten. Und tatsächlich fand ihn die Patrouille der Guardia Civil und zog ihn aus dem Wasser, die Polizisten durchsuchten ihn und fanden die Metallkapsel, die sie an Ort und Stelle öffneten, weil sie begierig darauf waren, sich vor ihren Vorgesetzten auszuzeichnen. Sie entfalteten das Papier, und der Kleinere von ihnen las eifrig so laut vor, daß alle ihn hören konnten, die Felsen, die Kiesel, die Barben und Forellen, Morrot und sein Polizeikollege.
    »Hallo, Klassenkameraden aus der zweiten Klasse der Schule von Ribera de Montardit. Diese Flaschenpost beweist, daß wir, wenn wir dem Flußlauf nur weit genug folgen würden, bis ans Meer gelangen würden. Auf der Landkarte haben wir gesehen, daß wir dabei viele Dörfer wie Eures und einige Schleusen durchqueren müßten, daß wir bei Camarasa in den Segre und dann bei Mequinensa in den Ebro münden würden. Und dann direkt ins Meer. Nach Ostern machen wir eine dreitägige Klassenfahrt ins Ebrodelta. Und Ihr?«
    Der dunkelhäutigere der beiden Polizisten verstaute das Papier wieder in der Metallkapsel, steckte diese in seine Manteltasche und murmelte: »Das sollte der Sergeant erfahren.«
    Sein Kollege deutete auf den Ertrunkenen. »Was machen wir mit dem?«
    »Wir sagen Bescheid, daß sie ihn abholen sollen.« Er klopfte auf die Metallkapsel: »Meine Entdeckung könnte sehr wichtig sein.«
    »Den Toten habe ich entdeckt.«
    »Das werde ich im Bericht vermerken«, sagte er großzügig. Und einen Moment lang erlaubte er sich zu träumen, daß an seiner Uniform die verdienten Korporalsterne glänzten.
    »Miño, Duero,Tajo, Guadiana, Guadalquivir, Ebro, Júcar und Segura.«
    »Sehr gut. Jetzt du, Helena. Welcher Fluß ist das?«
    »Der Guadiana.«
    »Sehr gut. Und der hier, Jaume?«
    »Der Tajo.«
    »Und warum ist die Noguera nicht dabei?« fragte jemand von hinten.
    »Oder der Pamano«, warf Jaume Serrallac ein.
    »Das ist ein kleiner Fluß.«
    »Mein Vater sagt, die Noguera ist größer als der Miño, der Júcar oder der Segura.«
    »Dein Vater hat recht.«
    »Nein, hat er nicht. Der Pamano ist wichtiger, da kann man fischen.«
    »Wo ist die Noguera?«
    »Hier. Seht mal, dies ist der Segre. Und das hier ist die Noguera. Hier liegt Torena.«
    »Darf ich mal gucken?«
    Ungeachtet des Grauens sind die Schulstunden so etwas wie eine Insel fern aller Gefahren, ungeachtet der Fotos von Franco und José Antonio, der allgegenwärtigen Landkarte von Spanien, des finsteren Blicks von Senyor Valentí, der, wie mir scheint, öfter denn je an der Schule vorbeigeht, als wollte er mich aus der Nähe überwachen, als wüßte er genau, was ich an dem Tag getan habe, als er seine Zuckerpuppe ausführte. Es heißt sogar, es solle noch ein Lehrer kommen, um mich bei der Arbeit zu unterstützen. Es tut mir in der Seele weh, daß die Ventura-Mädchen nicht in die Schule zurückgekommen sind. Ich kann nicht zur Ventura gehen und ihr sagen, ich war ein Feigling, als sie deinen Sohn getötet haben, aber ich versuche, es wiedergutzumachen, und wenn du das nicht glaubst, frag deinen Mann, den du nie siehst, weil er sich im Wald versteckt. Zum Glück sehen die Kinder mich ohne Haß an. Vielleicht haben einige von ihnen Angst, wie Jaume, ein Junge, der es mit einer vernünftigen Schulbildung weit bringen kann, der Sohn von Serrallac dem Steinmetzen, einem einsamen, verträumten Anarchisten, der unbegreiflicherweise in Senyor Valentís Racheplänen nicht auftaucht. Weißt Du was, meine Tochter? Heute habe ich geholfen, etwas vorzubereiten, von dem ich noch nicht weiß, was es ist, das ich aber erfahren werde, wenn es soweit ist. Heutenacht habe ich nicht geschlafen, weil wir mit einem Trupp ins Tal gezogen sind, um unterhalb von Rialb einen Toten mit falschen Informationen ins Wasser zu werfen. Ich kann mich nur schwer an die Selbstbeherrschung der Männer gewöhnen, die ich in letzter Zeit kennengelernt habe. Der Anführer der Truppe war der Bruder des Toten, der »Morrot« genannt wurde, obwohl die Brüder Galicier sind. Er ist am Wundbrand gestorben, und in keinem Augenblick habe ich eine Träne im Auge seines Bruders gesehen. Er hat nicht einmal gezögert, als wir den Leichnam in den eiskalten Fluß geworfen und gebetet haben – jeder auf seine Weise –, daß er gefunden wird, in Sort oder weiter unten, und daß der rohe Umgang mit

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