Die Stimmen von Marrakesch
eine Menge von Menschen mit Mund und Aug und Nase, mit Armen und Beinen, mit Lumpen und Krücken, mit allem, was sie hatten, woraus sie bestanden, zu einem
beten.
Ich erschrak, aber ich kann nicht leugnen, daß ich auch sehr ergriffen war und aller Schrecken sich bald in dieser Ergriffenheit verlor. Noch nie waren mir Menschen leiblich so nahe gekommen. Ich vergaß ihren Schmutz, er war mir gleichgültig, ich dachte nicht an Läuse. Ich fühlte, wie verführerisch es sein kann, sich für Menschen lebenden Leibes zerstückeln zu lassen. Dieses furchtbare Maß von Verehrung scheint das Opfer wert, und wie sollte es nicht Wunder stiften.
Aber mein Führer sorgte dafür, daß ich nicht unter den Händen der Bettler blieb. Seine Ansprüche waren älter und noch gar nicht befriedigt. Ich hatte nicht genug Wechselgeld für alle. Er vertrieb durch heftiges Keifen und Bellen die Ungestillten und zog mich am Arme fort. Als wir das Bethaus im Rücken hatten, sagte er mit seinem schwachsinnigen Lächeln dreimal »oui«, obwohl ich ihn gar nichts gefragt hatte. Es schien nicht mehr der gleiche Schutthaufen, als ich den gleichen Weg zurückging. Ich wußte nun, wohin sich sein Leben und sein Licht zusammengezogen hatten. Der alte Mann innen am Tore, der den Wettlauf auf seinen Krücken mit so viel Energie angegangen war, sah mich finster an, aber er blieb stumm und behielt seinen Fluch für sich. Ich schritt zum Tor des Friedhofs hinaus und mein Führer verschwand, so rasch wie er gekommen war, und an derselben Stelle. Es ist möglich, daß er in einer Ritze der Friedhofsmauer lebte und selten aus ihr hervorkam. Er verschwand nicht, ohne entgegenzunehmen, was ihm gebührte, und zum Abschied sagte er »oui«.
DIE FAMILIE DAHAN
Als ich am nächsten Morgen wieder in die Mellah kam, ging ich so rasch wie möglich zum kleinen Platz, den ich ›das Herz‹ nannte, und dann zur Schule, wo ich dem maskenhaften Lehrer noch etwas schuldig war. Er empfing mich, als wäre ich noch nie dagewesen, auf genau dieselbe Weise, und vielleicht wäre er wieder durch die ganze Prozedur des Lesens gegangen; aber ich kam ihm zuvor und gab ihm, was ich ihm schuldig zu sein glaubte. Er nahm das Geld rasch, ohne jedes Zögern und mit einem Lächeln, das sein Gesicht noch starrer und blöder erscheinen ließ. Ich ging ein wenig unter den Kindern umher, betrachtete mir ihre rhythmischen Lesebewegungen, die mich tags zuvor so beeindruckt hatten. Dann verließ ich die Schule und schlenderte aufs Geratewohl durch die Gassen der Mellah. Meine Lust, eines der Häuser zu betreten, war gewachsen. Ich hatte mir vorgenommen, die Mellah diesmal nicht zu verlassen, ohne ein Haus von innen gesehen zu haben. Aber wie kam ich hinein? Ich brauchte einen Vorwand, und mein Glück wollte es, daß sich mir bald einer bot.
Ich blieb vor einem der größten Häuser stehen, dessen Portal aus der Reihe der übrigen in der Gasse durch eine gewisse Ansehnlichkeit hervorstach. Das Tor war offen. Ich blickte in einen Hof hinein, an dessen innerer Seite eine junge, dunkle, sehr leuchtende Frau saß. Vielleicht war sie es, die meinen Blick zuerst angezogen hatte. Auf dem Hof spielten Kinder, und da ich nun schon etwas Erfahrung mit Schulen hatte, fiel mir ein, ich könne dieses Haus als eine Schule ansehen und mich so stellen, als wäre ich an den Kindern interessiert. Ich blieb stehen und starrte hinein, über die Kinder auf die Frau, als sich sehr bald ein junger, hochgewachsener Mann, den ich nicht bemerkt hatte, vom Hintergrund löste und auf mich zukam. Er war schlank und trug den Kopf hoch erhoben, in seinem wallenden Gewand nahm er sich sehr vornehm aus. Er blieb vor mir stehen, blickte mich ernst und prüfend an und fragte mich auf arabisch nach meinem Begehr. Ich entgegnete auf französisch: »Ist das eine Schule hier?« Er verstand mich nicht, zögerte etwas, sagte »Attendenz!« und wandte sich von mir ab. Es war nicht das einzige Wort Französisch, das er sprach, denn als er mit einem jüngeren Menschen wiederkehrte, der auf französische Art herausgeputzt war, in einem besten europäischen Anzug und so als ob es ein Festtag wäre, sagte er noch »mon frère« und »parle français«.
Dieser jüngere Bruder hatte ein flaches, stumpfes Bauerngesicht, er war sehr braun. In anderer Gewandung hätte ich ihn für einen Berber gehalten, aber keinen schönen. Er sprach wirklich Französisch und fragte mich, was ich wünsche. »Ist das eine Schule hier?« fragte ich, nun
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