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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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einbeinig und warf sich mit Wucht auf seinen Krücken vorwärts. Er war den anderen bald weit voran. Die niederen Grabsteine waren kein Hindernis für ihn, seine Krücken berührten den Boden immer an der rechten Stelle und glitten an keinem Stein ab. Wie ein drohendes altes Tier kam er auf mich zugestürzt. In seinem Gesichte, das mir rasch näherkam, war nichts, das Mitleid erregte. Es drückte wie die ganze Gestalt eine einzige ungestüme Forderung aus: »Ich lebe. Gib mir!«
    Ich hatte das unerklärliche Gefühl, daß er mich mit seinem Gewicht erschlagen wollte; er war mir unheimlich. Mein Führer, ein leichter, schmaler Mensch, der die Bewegungen einer Eidechse hatte, zog mich rasch fort, bevor er mich erreicht hatte. Er wollte nicht, daß ich diesen Bettlern etwas gebe und rief ihnen auf arabisch etwas zu. Der schwere Mann auf Krücken versuchte uns nachzukommen, aber als er einsah, daß wir rascher waren, gab er es auf und blieb stehen. Ich hörte ihn noch ein gutes Stück zornig fluchen, und die Stimmen der anderen, die hinter ihm zurückgeblieben waren, vereinigten sich mit seiner zu einem bösen Chor.
    Ich war erleichtert, daß ich ihnen entkommen war, und doch schämte ich mich, weil ich ihre Erwartungen vergebens geweckt hatte. Der Angriff des einbeinigen Alten war nicht an den Steinen abgeprallt, die ihm und seinen Krücken wohl vertraut waren; er war gescheitert an der Flinkheit meines Führers. Auf den Sieg in diesem ungleichen Wettlauf hatte man sich bei Gott nichts einzubilden. Ich wollte etwas über unseren armen Feind in Erfahrung bringen und wandte mich mit Fragen an den Führer. Er verstand kein Wort und statt einer Antwort verbreitete sich ein schwachsinniges Lächeln über sein Gesicht. Dazu sagte er »Oui«, immer wieder »Oui«. Ich wußte nicht, wohin er mich führte. Aber die Wüste war nach dem Erlebnis mit dem alten Mann nicht mehr ganz so wüst. Er war ihr rechtmäßiger Bewohner, ein Flurhüter der kahlen Steine, des Schuttes und der unsichtbaren Gebeine.
    Doch ich hatte seine Bedeutung überschätzt. Denn es dauerte nicht lange und ich kam an ein ganzes Volk, das hier ansässig war. Hinter einer kleinen Erhöhung bogen wir in eine Mulde ein und standen plötzlich vor einem winzigen Bethaus. Draußen, in einem Halbkreis, hatten sich vielleicht fünfzig Bettler angesiedelt, Männer und Frauen durcheinander, mit jedem Gebrest unter der Sonne behaftet, wie ein ganzer Stamm, wobei aber solche von fortgeschrittenem Alter überwogen. Sie hatten sich in farbigen Gruppen auf dem Boden niedergelassen und gerieten nun allmählich, nicht zu hastig, in Bewegung. Sie begannen Segensprüche zu murmeln und streckten die Arme aus. Doch sie kamen mir nicht zu nahe, bevor ich die Schwelle des Bethauses betrat.
    Ich blickte in einen ganz kleinen länglichen Raum, in dem Hunderte von Kerzen brannten. Sie staken in niederen Glaszylindern und schwammen in Öl. Die meisten von ihnen waren auf Tischen von gewöhnlicher Höhe ausgebreitet und man sah auf sie herab wie auf ein Buch, das man liest. Eine Minderzahl hing in größeren Gefäßen von der Decke herab. Auf jeder Seite des Raumes stand ein Mann, offenbar dazu bestellt, Gebete zu verrichten. Auf den Tischen in ihrer Nähe lagen einige Münzen. Ich zögerte auf der Schwelle, da ich keine Kopfbedeckung bei mir hatte. Der Führer nahm seine schwarze Mütze vom Kopf herunter und überreichte sie mir. Ich setzte sie mir auf, nicht ohne einige Verlegenheit, weil sie sehr schmutzig war. Die Vorbeter winkten mir und ich trat unter die Kerzen.
    Man nahm mich für keinen Juden und ich verrichtete kein Gebet. Der Führer zeigte auf die Münzen und ich begriff, was ich nun zu tun hatte. Ich blieb nur ganz kurz. Ich empfand Scheu vor diesem kleinen Raum mitten in der Wüste, der von Kerzen erfüllt war, der allein aus Kerzen bestand. Es ging eine stille Heiterkeit von ihnen aus, als wäre nichts ganz zu Ende, solange sie brannten. Vielleicht waren es diese zarten Flammen allein, was von den Toten übrig war. Draußen aber spürte man nah und dicht das leidenschaftliche Leben der Bettler.
    Ich trat wieder unter sie und nun gerieten sie wahrhaftig in Bewegung. Sie drängten sich an mich heran, von allen Seiten, als könnte ich gerade
ihr
Gebrechen übersehen und brachten es mir wie in einem kunstvollen und doch sehr heftigen Tanz nahe. Sie faßten mein Knie und küßten mir den Rock. Sie segneten, so kam es mir vor, jede Stelle meines Körpers. Es war, als würden

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