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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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Mann fragte mich, woher ich komme.
    »Aus England«, sagte ich, »London.« Ich hatte mir angewöhnt, hier diese vereinfachte Antwort zu geben, um die Menschen nicht zu verwirren. Ich spürte eine leise Enttäuschung über meine Antwort, wußte aber noch nicht, was er lieber gehört hätte.
    »Sie sind als Besucher hier?«
    »Ja, ich habe Marokko noch nie gesehen.«
    »Waren Sie schon in der Bahía?«
    Nun begann er mich nach allen offiziellen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu fragen: war ich da gewesen, oder dort, und endete damit, daß er sich als Führer antrug. Ich wußte, daß man nichts mehr sah, sobald man sich einmal einem Einheimischen als Führer anvertraut hatte, und um diese Hoffnung so rasch wie möglich abzuschneiden und das Gespräch auf andere Dinge zu bringen, erklärte ich, daß ich mit einer englischen Filmgesellschaft hier sei, die der Pascha persönlich mit einem Führer versehen habe. Ich hatte eigentlich mit diesem Film nichts zu tun. Aber ein englischer Freund von mir, der ihn herstellte, hatte mich nach Marokko eingeladen, und ein anderer Freund, der mit mir war, ein junger Amerikaner, spielte darin eine Rolle. Meine Auskunft verfehlte ihre Wirkung nicht. Er bestand nicht mehr darauf, mir die Stadt zu zeigen, aber ganz andere Aussichten eröffneten sich vor seinen Augen. Ob wir vielleicht eine Stelle für ihn hätten? Er mache alles. Er sei schon lange ohne Arbeit. Sein Gesicht, das etwas Stumpfes und Finsteres hatte, war mir bis jetzt unerklärlich erschienen; es reagierte wenig oder so langsam, daß man widerstrebend annahm, in diesem Menschen gehe überhaupt nichts vor. Nun aber begriff ich, daß sein Anzug mich über seine Verhältnisse getäuscht hatte. Vielleicht sah er so finster drein, weil er seit langem ohne Arbeit war, und vielleicht ließ seine Familie ihn das fühlen. Ich wußte, daß alle kleinen Posten in der Gesellschaft meines Freundes längst vergeben waren und sagte es ihm gleich, um ihn nicht irrezuführen. Er kam mir mit dem Kopf über den Tisch ein wenig näher und fragte plötzlich:
    »Êtes-vous Israélite?«
    Ich sagte begeistert ja. Es war so angenehm, endlich etwas bejahen zu können, und ich war auch neugierig auf die Wirkung, die dieses Bekenntnis auf ihn haben würde. Er lachte übers ganze Gesicht und zeigte seine großen, gelblichen Zähne. Er wandte sich zu seiner Schwägerin, die in einiger Entfernung mir gegenüber saß und nickte heftig, um seine Freude über diese Nachricht an sie weiterzugeben. Sie verzog keine Miene. Sie schien mir eher ein wenig enttäuscht; vielleicht hätte sie sich den Fremden ganz fremd gewünscht. Er strahlte noch eine Weile, und als ich nun Fragen zu stellen begann, antwortete er etwas flüssiger, als ich es von ihm erwartet hätte.
    Ich erfuhr, daß die Schwägerin aus Mazagan stammte. Das Haus war nicht immer so voll. Die Mitglieder der Familie waren aus Casablanca und Mazagan zur Hochzeit hergefahren und hatten ihre Kinder mitgebracht. Alle wohnten nun bei ihnen im Haus und darum war der Hof so ungewöhnlich belebt. Er hieß Élie Dahan und nahm stolz zur Kenntnis, daß ich denselben Vornamen trug wie er. Sein Bruder war Uhrmacher, aber er hatte kein eigenes Geschäft, er war bei einem anderen Uhrmacher angestellt. Ich wurde wiederholt zum Trinken aufgefordert und man stellte eingemachte Früchte vor mich hin, wie meine Mutter sie zu machen pflegte. Ich trank, aber die Früchte lehnte ich höflich ab - vielleicht weil sie mich zu sehr anheimelten -, und rief dadurch endlich eine klare Reaktion auf dem Gesicht der Schwägerin hervor, Bedauern. Ich erzählte, daß meine Vorfahren aus Spanien gekommen wären und fragte, ob es noch Leute in der Mellah gäbe, die das alte Spanisch sprächen. Er wußte niemand, doch hatte er von der Geschichte der Juden in Spanien gehört und diese Ahnung war das erste, was über seine französische Aufmachung und die Verhältnisse seiner engsten Umgebung hinauszugehen schien. Nun fragte wieder er. Wieviel Juden es in England gäbe? Ob es ihnen gut ginge und wie man sie behandle? Ob es große Männer darunter gäbe? Ich fühlte plötzlich etwas wie eine warme Dankespflicht gegen das Land, in dem es mir gut ergangen war, in dem ich Freunde gewonnen hatte, und damit er mich verstehe, erzählte ich ihm von einem englischen Juden, der es zu hohem politischen Ansehen gebracht hatte, Lord Samuel.
    »Samuel?« fragte er und strahlte wieder über das ganze Gesicht, so daß ich annahm, er habe von ihm gehört

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