Die Strafe - The Memory Collector
jetzt los.«
Endlich hatte Paterson ein Einsehen. Als sich Jo neben Kanan kniete, jagte ihr ein Angstschauer über den Rücken wie kaltes Wasser. Sie war keine Ärztin, sondern forensische Psychiaterin. Bei ihrer Arbeit ging es nie um medizinische Notfälle. Die Leute, mit denen sie sich beschäftigte, waren bereits tot.
Sie rief sich zur Ordnung. Ein Schritt nach dem anderen. Zuerst ABC. Atemwege, Beatmung, Circulation. Sie stellte sicher, dass Kanan atmete, und prüfte seinen Puls. Dann schlüpfte sie aus dem Pullover und schob ihn zusammengerollt unter seinen Kopf. Seine Haut strahlte Hitze ab.
»Einen Krankenwagen und Sanitäter. Rufen Sie an.«
»Sie wollen ihn nicht einweisen?«, fragte Paterson.
»Nein. Er kommt in die Notaufnahme.«
Paterson sprach in sein Funkgerät. Jo suchte Kanans Kopf nach Brüchen und Platzwunden ab. Doch die einzigen Verletzungen, die sie bemerkte, waren die Schrammen an seinem Unterarm. Sie vermied jede Berührung damit und überlegte, dass es wohl vernünftiger gewesen wäre, Latexhandschuhe mitzubringen. Im Gang entdeckte sie sein Handy und hob es auf. Sie sah nach, wen er angerufen hatte: nur eine einzige Nummer mit der Vorwahl 650, aber die siebenundvierzig Mal.
Wie eine zurückweichende Welle klang der Anfall allmählich ab. Schließlich hörte Kanan auf, sich zu winden, und blieb schlaff auf dem Boden liegen. Seine Augen schlossen sich und öffneten sich wieder. Aus Patersons Funkgerät drang statisches Prasseln.
Jo legte Kanan die Hand auf die Schulter. »Mr. Kanan? Ian?«
Sie hörte das Klirren von Handschellen, die von einem Gürtel gelöst wurden.
»Nicht.« Sie warf einen Blick nach hinten. »Er hat wahrscheinlich eine Kopfverletzung. Wo bleiben die Sanitäter?«
»Sind schon unterwegs«, antwortete Paterson. »Er hat einen Polizeibeamten angegriffen. Wir müssen ihn festnehmen.«
»Sie können ihn nicht verhaften.«
»Dafür sind Sie nicht zuständig. Nur für die Einweisung. Wie schaut’s damit aus?«
Kanan regte sich. »Was … bin … der Fluss ist zu …«
Jo sprach ihn an. »Ian.«
»Ganz falsch … es ist …« Er schaute sie an wie durch einen verzerrten Videolink. »Slick … Fälle … Misty, ich …« Er blinzelte und packte Jo am Arm. »Die Hand!«
Sein Atem wurde schneller. Jo prüfte seinen Puls. Hundertachtundvierzig.
»Werden Sie von jemandem abgeholt?« Sie bemerkte den Ehering an seinem Finger. »Von Ihrer Frau vielleicht?«
Sein Blick funkelte, als hätte ihre Stimme eine Explosion in seinem Gehirn ausgelöst. Dann verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiße zu erkennen war, und seine Lippen öffneten sich. Unter Jos Händen verkrampfte sich sein Körper.
Er hatte schwere Zuckungen. Diesmal war es ein Grand-Mal-Anfall.
Der Rettungswagen raste durch den Regen auf dem Highway 101 Richtung Norden und scheuchte mit der Sirene den Verkehr aus dem Weg. Kanan lag reglos auf eine Trage geschnallt. Jo saß neben seiner Schulter. Die Sanitäterin hielt sich fest, als das Auto eine Kurve nahm. Sie rief immer wieder Kanans Namen und leuchtete ihm mit einer Stiftlampe in die Augen.
Hinten an der Hecktür hockte Officer Paterson, das Kindergesicht argwöhnisch verzogen. Seine linke Hand glitt immer wieder über die Handschellen an seinem Gürtel.
Jo schüttelte den Kopf. »Einen Epilepsiepatienten dürfen Sie nicht fesseln.«
»Eine Hand an der Trage.«
»Nein. Wir müssen ihn bewegen können. Wenn er sich übergibt, darf er das Erbrochene nicht einatmen, sonst könnte er daran ersticken.«
»Der Typ ist eine tickende Zeitbombe. Er wird auf jeden Fall verhaftet«, beharrte Paterson.
»Wenn Sie glauben, Sie können ihn in diesem Zustand über seine Rechte belehren, dann sind Sie derjenige, der eine Einweisung braucht.«
Kanan stöhnte.
Die Sanitäterin sprach ihn an. »Ian, können Sie mich hören?«
Eine Windbö pfiff über den Rettungswagen und schleuderte Regen gegen die Fensterscheiben. Kanans Augenlider flatterten nach oben.
Jo nahm seine Hand. »Wie heißen Sie?«
Er blinzelte benommen. »Ian Kanan.« Sein Blick klärte sich. Seine Pupillen waren gleich und reagierten auf das Licht. Etwas Wölfisches glühte in ihnen.
Jo spürte ein Prickeln im Nacken.
In der Maschine hatte Kanan Paterson mit der Unaufhaltsamkeit einer Zugkatastrophe auf die Knie gezwungen. Auch wenn sie sich vehement für ihn eingesetzt hatte, war Jo nicht scharf darauf, dass Kanan hier im Krankenwagen Unheil anrichtete.
»Sie hatten einen Anfall.
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