Die Strafe - The Memory Collector
ist?«
Bitterkeit stieg in Jo hoch. »Amnesie.« Sie schaute Kanan an. Und nicht die harmlose Art.
Seth hockte mit dem Rücken zum Bettgestell auf dem Boden. Er war still. Schon seit Tagen. Die Männer hatten ihm befohlen, die Klappe zu halten.
Doch in seinem Kopf herrschte lauter Lärm, wie vom Feedback eines Verstärkers. Weil er den Mund aufgemacht hatte, als ihn die Typen durch den Park schleiften. Er hatte geredet. Über Dad.
Der Magen tat ihm weh. Als würde er von einer Faust zusammengequetscht, von einer Faust aus Draht. Er schlang die Arme um die Schienbeine und bettete den Kopf auf die Knie.
Dad ist verschwunden, und ihr werdet ihn nie kriegen. Er ist drüben im Nahen Osten, und wenn ihr glaubt …
Er hatte es nur gesagt, um ihnen Angst einzujagen. Damit sie kapierten, dass sein Dad nicht bloß so ein Reiseführer war, der die Leute im Urlaub herumscheuchte. Er war ein harter Hund, der es jederzeit allein mit dem Nahen Osten aufnahm. Warum hatte er bloß diesen Quatsch verzapft? Warum warum warum …
Im Zimmer war es schummrig, und der Boden war ziemlich unbequem. Aber das war in Ordnung - er wollte es so, saß lieber auf dem Boden als auf dem knarrenden Bett. Der harte Boden zwang ihn, wach zu bleiben und nachzudenken.
Was sollte er tun? Die Männer hatten ihm gedroht für den Fall, dass er nicht die Klappe hielt. Oder irgendjemandem was erzählte. Dabei hatten sie nicht mit Einzelheiten gespart. Erst führen wir es dir an deinem Hund vor. Dann machen wir dasselbe mit deiner Mom.
Er schloss die Augen und drückte sich die Hände auf die Ohren, um die Erinnerung auszusperren.
Im Moment ging es Whiskey ganz gut. Seth konnte hören, wie er in der Küche Wasser aus einer Schüssel schlabberte. Aber Whiskey war nicht sicher, genauso wenig wie Seths Mom. Die Männer hatten ihn genau da, wo sie ihn haben wollten. Und sie konnten jederzeit anrücken, ohne Vorwarnung.
Die Drahtfaust spannte sich noch fester um seinen Magen, dann packte sie ihn an der Kehle. Er musste etwas unternehmen. Sich was einfallen lassen. Aber was? Er saß in der Falle.
Der Neurologe Rick Simioni fand Jo im Gang des Krankenhauses. Die Bestürzung stand ihm unzweifelhaft ins Gesicht geschrieben.
»Hatte ich Recht?«, fragte Jo.
»Anterograde Amnesie, kein Zweifel.«
Simionis Hemd und Laborkittel waren blütenweiß. Er strich sich die Krawatte glatt. »Kanan weiß, wer er ist. Erinnert sich an alles, an sein Leben und an die Welt, bis zum Beginn seines heutigen Flugs.«
»Und danach?«
»Nichts.«
Nach Kopfverletzungen war eine leichte Amnesie nichts
Ungewöhnliches. Und mit fortschreitender Genesung eines Patienten stieg auch die Chance, dass sein Gedächtnis zurückkehrte. Aber in Ian Kanans Fall war alles anders.
»Er kann also nichts Neues aufnehmen?«, hakte Jo nach.
»Es kommt an, bleibt eine Weile hängen, dann entgleitet es ihm wieder. Sein Gehirn empfängt neue Informationen, kann sie aber nicht verarbeiten.«
»Wie lang kann er Informationen behalten, bevor er sie vergisst?«
»Fünf, sechs Minuten.«
»Und wie läuft das ab?«
»Er verliert nicht das Bewusstsein. Hat auch keinen Anfall. Das EEG zeigt keine iktalen Muster. Aber sobald seine Aufmerksamkeit nachlässt, lösen sich die gesammelten Informationen einfach in Rauch auf.«
»Also Kurzzeitgedächtnisverlust«, fasste Jo zusammen. »Er hat keinerlei Probleme mit dem Sehen, Hören und Sprechen. Und Sie haben auch keine Muskelschwäche festgestellt …«
»Er hat erst einen komplex-partiellen Anfall und dann einen Grand Mal erlitten. Hat nur elf Punkte auf der Glasgow-Komaskala.«
Diese Nachricht war schlimm. Kurzzeitgedächtnisverlust - anterograde Amnesie - hieß nicht, dass man die Dinge nur für eine Weile vergaß. Es hieß, dass man keine neuen Erinnerungen bilden konnte. Außerdem war diese Störung sowohl Symptom als auch Ergebnis einer katastrophalen Gehirnverletzung.
»Was ist die Ursache?«
»Sie müssen sich das Kernspintomogramm ansehen.«
An den Wänden der Radiologieabteilung summten Lichtkästen. Auf einem Computerbildschirm leuchtete die PET-Aufnahme einer Lunge und Leber, wie Timothy Leary sie vielleicht halluziniert hätte: hochrot, kobaltblau und knallgelb.
Im Vergleich dazu wirkte das schwarz-weiße Kernspinbild von Kanans Gehirn eher langweilig. Aber dafür war es umso verheerender.
Der Radiologe war ein gewissenhafter Mann namens Chakrabarti aus Hyderabad, der kaum Haare hatte und noch weniger Emotionen zum Ausdruck
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