Die strahlenden Hände
unerklärbare Bann ist gebrochen. Ein Schauer durchrann seinen massigen Körper. Er hatte das Bedürfnis, die Augen zu schließen und unter dieser strömenden Wärme einzuschlafen – aber Corinnas Blick zwang ihn, weiterhin in ihre Augen zu starren, wie hypnotisiert, obwohl er alles, was um ihn herum vorging, voll begriff.
Dann war es plötzlich vorbei. Corinnas Hände sanken an ihrem Körper herab, sie warf den Kopf weit in den Nacken und trat, leicht schwankend, ein paar Schritte zurück. Wieder reichte Doerinck ihr eine brennende Zigarette, mit der sie zum Tisch ging. Dort setzte sie sich und rauchte die Zigarette hastig mit gesenktem Kopf. Ihr hart gewordenes Gesicht entspannte sich, die ebenmäßige Schönheit kehrte zurück. Dann seufzte sie und strich sich die Haare aus der Stirn.
Roemer hatte sich bis dahin nicht gerührt. Er fragte auch nicht, eine höllische Angst hielt ihn davon ab. Er wollte nicht hören müssen: Nein. Es war umsonst. Ich spüre nichts in meinen Händen. – Er registrierte nur, daß Corinna sehr müde war, daß sie zerbrechlich wirkte, kraftlos und ausgepumpt. Allein dieser Anblick gab ihm eine irrsinnige Hoffnung. War ihre ganze Kraft in ihm geblieben? Begann das Unerklärliche, seine Krankheit zu zertrümmern?
Erst nach zwei Minuten völliger Stille bewegte er sich, griff zur Kognakflasche und wollte sie einfach an den Mund setzen. Van Meersei riß sie ihm aus der Hand.
»Das lassen Sie jetzt!« zischte er.
»Ich habe Durst«, stammelte Roemer.
»Es gibt Wasser.«
»Wasser?« Roemers Entsetzen war echt. »Ich soll Wasser saufen? Bin ich ein Ochse?«
»Ja!«
»Auch gut!« Roemer nickte schwer. »Wo ist der Wasserkran?«
Doerinck öffnete den in ein Regal eingebauten Kühlschrank, holte eine Flasche Mineralwasser hervor, drehte den Verschluß auf und reichte sie Roemer hin. Nach zwei langen Schlucken setzte Roemer die Flasche wieder ab.
»Wenn das meine Freunde sehen würden«, sagte er und rülpste verhalten. Die Kohlensäure quirlte in ihm. »Erasmus trinkt Wasser. Da stimmt die Welt nicht mehr.« Er sah auf Corinna hinunter, rang mit sich, wagte es aber nicht, zu fragen. Und dabei blieb es. Man fuhr am Abend zurück zu Doerinck, ohne daß Roemer wußte, ob die Behandlung gelungen war.
Im Hause Doerincks öffnete Ljudmila die Tür und war wie immer voll großer Herzlichkeit. Sie gab Stefan einen Kuß, umarmte ihre Tochter und ließ sich von Meersei und Roemer die Hand küssen. Dr. Hambach gab ihr einen Schmatz auf die Backe.
»Nichts Neues?« fragte Doerinck. Er hatte den ganzen Tag über Angst davor gehabt, daß man Ljudmila vielleicht genauso belagerte, wie er und Corinna mit den Freunden in der Scheune belagert worden waren. Sechsmal hatte er zu Hause angerufen, aber immer hatte Ljudmila gesagt: »Nein. Hier ist es still. Keiner belästigt mich. Hab' keine Sorgen, Stefanka … Vor einer Stunde waren welche vom fernsehen hier. Ich habe nicht aufgemacht … Nein. Die Straße ist wie ausgestorben.« Beim vierten Anruf hatte Ljudmila gesagt: »Vorhin hat der Schulrat angerufen. Ich habe gesagt, erst am Abend bist du zurück.«
»Hat der Schulrat irgendwelche Andeutungen gemacht?« fragte Doerinck.
»Nein. Er war sehr höflich.«
»Wir haben Besuch«, sagte Ljudmila jetzt, als sie alle in der Diele standen. Doerinck zog die Augenbrauen zusammen.
»Besuch? Jetzt? Wer denn?«
»Ein junger Mann. Er möchte Cora sprechen.«
»Nun sollst du mal sehen, wie schnell ein Mensch aus einem Haus fliegen kann!« sagte Doerinck finster. »Wieso läßt du einen fremden Mann zu uns herein, Ljudmila?«
»Er ist Maler, sagt er. Er will Cora etwas zeigen.«
»Das haben wir gleich.« Doerinck riß die Tür zum Wohnzimmer auf und stürmte in den Raum. Aus dem Sessel sprang sofort ein Mann hoch und machte eine Verbeugung. Er trug helle Cordhosen, ein kariertes Hemd, und das Haar, blond wie Weizen, hing ihm bis an den Kragen. Sein Gesicht war etwas knochig, aber auf Anhieb sympathisch. Das beste allerdings waren seine Augen: tiefblau und ehrlich – ein jungenhafter, unbekümmerter Blick.
»Herbert«, sagte er sofort. »Marius Herbert. Ich bitte um Entschuldigung …«
»Wie Sie bemerkt haben, ist in der Wohnung noch alles in Ordnung!« sagte Doerinck hart. »Wir brauchen weder Tapeten noch neuen Lack an den Türen.«
»Ich bin Kunstmaler.«
»Auch für Gemälde ist kein Bedarf.«
Marius Herbert blickte zur Tür. Roemer, Meersei und Dr. Hambach waren nun ins Zimmer gekommen. Als
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