Die strahlenden Hände
Männer anscheinend die Lage erklärten. »Wie kommt es, daß der Polizeipräsident und die Staatsanwaltschaft nur dreiziffrige Nummern haben?«
»Wieso?« fragte Roemer knurrend zurück.
»Ich habe genau zugesehen. Bei Ewig und Sohn handelte es sich um eine sechsstellige Nummer, bei den anderen waren es nur dreistellige Nummern.«
»Wirklich?« Roemer grinste breit. »Ihre Augen sind doch vorzüglich, Dr. Hambach.«
»Sie haben weder mit dem Präsidenten noch mit der Staatsanwaltschaft gesprochen?«
»So ist es.«
»Du lieber Himmel! Und warum nicht?«
»Wollen wir Komplikationen? Na also. Jetzt haben wir Luft bis morgen. Wer weiß, wie die Welt morgen aussieht.«
»Das kann Ihnen mächtigen Ärger einbringen, Herr Dr. Roemer«, sagte Doerinck.
»Mir nicht mehr. Es ist ein verdammt niederschmetternder, gleichzeitig aber auch verdammt befreiender Zustand, jenseits von allen Zwängen zu stehen und sprechen und tun zu können, was man will. Mir schadet nichts mehr! Ich bin frei für die Ewigkeit.«
»Sind Sie so sicher?« fragte Corinna leise.
»Ja! Nachdem Ihre Hände bei mir versagen, kann mich nichts mehr erschüttern.«
»Wir versuchen es doch noch einmal, Dr. Roemer.«
»Corinna!« Der riesige schwere Mann sank fast in sich zusammen. Er fiel schwer auf einen Stuhl und legte seine gewaltigen Hände um den Kopf. »Ich habe mit allem abgeschlossen. Nun glaube ich selbst nicht mehr daran …«
»Stehen Sie auf, Dr. Roemer!« Corinna trat nahe an ihn heran. Roemer stemmte sich hoch, mit fast hervorquellenden Augen und bebenden Lippen. »Sehen Sie mich an! Blicken Sie mir ins Auge, so, als sei mein Auge ein Spiegel, in dem Sie sich wiedersehen. Suchen Sie sich in meinen Augen … Ja, so ist es. Sie haben sich entdeckt …«
Ihre Stimme versickerte in die Stille. Dr. Roemer stand starr und atmete kaum. Und ganz langsam hob Corinna ihre Hände, formte aus ihnen zwei flache Schalen und ließ sie über Roemers Körper gleiten … ein Schweben und Streicheln … ein Herausziehen und Hineingeben …
Van Meersei stand an der Wand und sah sie gebannt an.
Warum sehen es die anderen nicht, fragte er sich verzweifelt und hätte beinahe geschrien: Seht doch, seht doch hin … über ihrem Kopf ist ein Leuchten!
Ein Leuchten ist um sie …
*
Das Bestattungsinstitut Ewig & Sohn hatte Hanna Zynnis abholen lassen. Die Beauftragten brachten einen schönen schweren, geschnitzten Eichensarg mit, ein seidenes Totenhemd und ein weißes Damastkissen.
Draußen hatte sich die Menge der Wartenden gelichtet. Nachdem nun feststand, daß keiner in die Scheune gelassen wurde und jedes Ausharren vergeblich war, bröckelten immer mehr Gruppen von der geballten Masse ab. Zuletzt blieben nur noch ein Fernsehteam und vier oder fünf Wagen übrig.
Auch der Festplatz von Hellenbrand hatte sich geleert. Drei Wohnwagen, die auch gekommen waren, wurden umgeleitet auf den offiziellen Campingplatz, wo sie noch eine kleine freie Ecke fanden. Bürgermeister Beiler und die örtliche Polizei atmeten auf. Der erste Sturm war bewältigt. Aber man mußte wohl erwarten, daß es am nächsten Tag weiterging. In der aktuellen Fernsehsendung ›Was war heute?‹ erschien bestimmt ein Bericht über diesen turbulenten und, was Sensationen anbetraf, schließlich doch unfruchtbaren Tag. Bis auf die Tote! Man filmte natürlich die Ankunft des Leichenwagens der Firma Ewig & Sohn, die Abfahrt des Wagens, das bleiche Gesicht des Witwers und seinen klassischen Satz, als der Reporter ihn um einige Auskünfte bat: »Ihr könnt mich alle kreuzweise …«
So empfindlich und moralisch sich das Fernsehen sonst auch gab – diesen Ausspruch sendete man; er wurde interpretiert als äußeres Zeichen der totalen Verzweiflung eines Witwers, dessen geliebte Frau bei der Wunderheilerin gestorben war. Damit war auch der Anlaß gegeben, daß sich die Gesundheitsbehörden intensiv mit Corinna Doerinck beschäftigen mußten.
Doerinck und die anderen im Haus warteten bis zur Dunkelheit; dann beschloß man, auf dem Schleichweg wieder in das Lehrerhaus zurückzukehren. Die Quartierfrage war geklärt worden: Van Meersei schlief bei Doerinck, Dr. Roemer wurde Gast von Dr. Hambach.
Mit Roemer war eine Veränderung vor sich gegangen. Corinna hatte ihm nicht gesagt, ob sie etwas in ihren Fingern spüre, als sie über seinen Körper strich. Er selbst hatte eine tiefe Wärme empfunden, eine angenehme Hitze, die in Wellen durch seinen Leib flutete. Es gelingt, hatte er gedacht, der
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