Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Tscheljabinsk.
    Als sie wieder über die vereisten Uralberge flogen, legte Marius die Hand auf Corinnas Schenkel. Dr. Hambach schlief, er hatte ein Mittel gegen Reisekrankheit genommen; das Schwanken der kleinen Maschine hatte ihm auf dem Hinflug schwer zugesetzt, er wollte dem nun ausweichen. Doerinck und Ljudmila starrten aus dem Fenster, um den Anblick der Taiga, der Flüsse, Berge und Steppen in ihren Herzen zu bewahren. Sie würden dies alles nie wiedersehen, das wußten sie.
    »Wie fühlst du dich?« fragte Marius leise.
    »Müde … und du?«
    »Ich könnte hundert Bilder auf einmal malen.«
    »Wie schön!« Sie lächelte ihn an, der goldene Punkt in ihren Augen tanzte. »Zu Hause werden wir die Kunstwelt alarmieren.«
    Zu Hause – was war das? Das Zelt als Notquartier mit der Meute der Fernsehreporter und Journalisten und den in zwei Lager gespaltenen Bürgern von Hellenbrand – auf der einen Seite die, welche mit der Not der Kranken Geschäfte machten, auf der anderen Seite jene, die sich weigerten, ihre Kinder in die Klasse des Lehrers Doerinck zu schicken. Und dazu gehörte auch noch die geballte Gegnerschaft der Schulmedizin, deren Stolz nicht einmal eine Diskussion zuließ, nicht zu vergessen die Behörden, die mit Eifer darangingen, das ›Wunder‹ zu verwalten. All dies erforderte ein Umsichschlagen nach allen Seiten, um überhaupt atmen zu können – und das sollte ihr ›zu Hause‹ sein?
    »Wann willst du es ihnen sagen, das mit dem Kind?« flüsterte Marius.
    »Wenn sie zur Ruhe gekommen sind.« Corinna blickte hinüber zu ihren Eltern. Doerinck hatte den Arm um Ljudmila gelegt. Es sah zärtlich aus, und doch war es nur ein Festhalten.
    »Jetzt nehmen wir Abschied von einem jahrzehntelangen Traum.«
    *
    Monate können schleichen wie eine zäh sich dahinschleppende Qual. Erdrosselnd langsam tröpfelt die Zeit, die kleinen Alltäglichkeiten zermürben die Kraft. Und wenn sogar abends, in der Dunkelheit und der nur scheinbar geborgenen Wärme des Bettes, das Ich aufseufzt, weil mit dem Gefühl, diesem gewesenen Tag endlich entronnen zu sein und ein paar Stunden Frieden zu atmen, schon wieder die Angst vor dem kommenden Tag sich breitmacht – dann werden diese Monate zu lichtlosen, erdrückenden Gefängnissen.
    Doch die Zeit kann auch davonfliegen wie ein Schnipsel Papier im Sturm, und man rennt ihr nach, kann sie nicht mehr fassen und hätte sie doch so gern festgehalten, weil die Stunden und Tage nicht ausreichen, des Lebens Fülle, die einen umgibt, an sich zu drücken und zu genießen.
    Das Leben in Hellenbrand war wie ein solcher Sturm.
    Die Rückkehr der Sibirienfahrer, wie man sie in Hellenbrand natürlich sofort nannte, war schon eine Stunde später, nachdem sie Doerincks Haus betreten hatten, überall bekannt geworden. Anonyme Anrufe erreichten die großen und kleinen Zeitungen. Auch in Köln beim Fernsehen klingelte das Telefon. Es waren, man muß es festhalten, nicht die Gegner Corinnas, die Alarm gaben, sondern es war die Gruppe der Schnellschalter, die eine neue Belebung ihrer Geschäfte erwartete. Die Buden und Stände des Bäckers, des Metzgers, des Gastwirtes, des Andenkenhändlers und des Süßwarenverkäufers standen ja noch rund um das Zelt, und da es Herbst wurde und der Winter bald einbrach, rechnete man sich aus, daß gebrannte Mandeln, heiße Maronen, Glühwein, Kräuterbonbons und frische Waffeln bei allen Heilungsuchenden und Wartenden sehr beliebt sein müßten. Einen solchen Segen kann und darf man sich nicht entgehen lassen, ganz gleich, wie man zu der Sache mit den ›strahlenden Händen‹ auch steht. Ein Geschäft ist ein Geschäft, und einer Mark sieht man es nicht an, woher sie kommt. Man komme da nicht mit Moral – außer Sektengründern und dem Roten Kreuz ist noch niemand durch Moral reich geworden. Geschenkt wird einem nichts; man hat die Hände und das Hirn zum Arbeiten bekommen.
    Um vier Uhr nachmittags betraten die ›Sibirier‹ Doerincks Haus, wo Dr. Roemer sie mit einem gewaltig gedeckten Tisch erwartete, als probe er eine Ausstellung ›Aus aller Welt auf den Tisch‹. Mit dem Gebrüll: »Willkommen zu Hause, ihr seht ja fabelhaft aus!« drückte er jeden an seine Mammutbrust und küßte ihn ab. »Das seid ihr doch jetzt gewöhnt!« schrie er. »Küßchen rechts, Küßchen links … Küßchen unten – ha, Ewald, wie sind die Weiber in Rußland? Stimmt es, daß sie im Bett ›fperjot! fperjot!‹ (›Vorwärts, vorwärts!‹) kommandieren?« Er riß

Weitere Kostenlose Bücher