Die strahlenden Hände
genommen worden. Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für alles, was noch kommen kann.«
»Was kann nach diesen Röntgenbefunden noch kommen?« fragte Dr. Hambach. »Sie hoffen auf Metastasen, nicht wahr? Sie hoffen geradezu darauf. Gebe Gott, daß Sie unrecht behalten!«
»Gott hat noch nie ein Kolon-Ca geheilt!« Willbreit stieß die Haustür auf und trat ins Freie. Der Zwetschgenbaum im Vorgarten war dick behangen; es sollte ein gutes Obstjahr werden, hieß es. Und überall im Garten der Doerincks leuchteten die Sonnenblumen. Welch ein Tag – und welch eine Tragik, die sich in diesem Hause abspielte. Willbreit zog den Kopf etwas tiefer in die Schultern.
»Trotzdem, Herr Doerinck«, sagte er versöhnlicher, »bin ich immer für Sie da. Jederzeit zu erreichen in der Klinik oder zu Hause. Wenn Sie mich brauchen: zögern Sie nicht, mich anzurufen!«
Doerinck schwieg, aber er nickte. Langsam ging Willbreit zu Roemers schwerem Wagen und wartete darauf, daß sein Freund ihm nachkam. Aber Roemer blieb noch im Haus. Er stand wie bisher ziemlich steif im Zimmer, ein Riese, ein Monument, dem niemand ansah, wie morsch es innen war.
»Es kann sein, daß Sie sich irren«, sagte er stockend. »Corinna, das kann doch sein? Irren ist menschlich … Es irrt der Mensch, solang er lebt – oder strebt – oder so ähnlich, hat mal ein Dichter gesagt. Goethe oder Schiller, jedenfalls einer von beiden. Warum soll sich eine Corinna nicht irren? Das ist doch möglich – oder nicht?«
»Ja, ich kann mich irren.« Corinna hob wieder ihre Hand, hielt sie erneut über Roemers rechten Oberbauch. Die Hand begann zu zittern. »Aber ich spüre da etwas … ja … etwas sehr Starkes; es setzt mir einen ungeheuren Widerstand entgegen …« Sie schloß die Augen, warf den Kopf etwas nach hinten, und Roemer hielt den Atem an, sah ihr herrliches, jetzt völlig dem Irdischen entrücktes Gesicht und empfand irgendwo innen eine strömende Wärme, die so wunderbar war, daß er sie nie mehr hergeben wollte. »Ich spüre es … es greift mich an … wir sind Feinde, die Krankheit und ich … Es ist ein Kampf … ein Kampf …«
Plötzlich zuckte sie heftig zusammen, nahm den Kopf zurück, öffnete die großen schwarzen Augen und ließ die Schultern herabfallen. Ihr ganzer Körper schien von einer Sekunde zur anderen kraftlos zu sein, ausgelaugt wie bei einem Läufer, der nach Tausenden von Metern endlich das Ziel erreicht hat. Roemer stieß die angesammelte Luft seufzend aus seinen Lungen. Wie blind tastete Corinna um sich, fand die auf den Tisch gelegte Zigarettenschachtel, zog eine Zigarette heraus, steckte sie an und inhalierte den Rauch, als sei er die einzige Kraftquelle.
»Sie müssen sich unbedingt von Professor Willbreit untersuchen lassen«, sagte sie nach vier gierigen Zügen. »Unbedingt, so schnell wie möglich.« Sie sah Roemer an und versuchte ein um Verzeihung bittendes Lächeln. »Es tut mir so leid, daß Ihr Besuch so enden muß … Aber sollte ich nichts sagen?«
»Nein. Natürlich nicht. Es war alles völlig richtig.« Roemer, sonst Frauen gegenüber trotz seiner Leibesfülle von ungemeiner Gelenkigkeit und auch von Natur aus ein hinreißender Charmeur, küßte Ljudmila etwas unbeholfen die Hand, machte eine knappe Verbeugung vor Corinna und rannte dann aus dem Zimmer. In der Diele stieß er auf Dr. Hambach. Doerinck war Willbreit bis zum Wagen nachgegangen. Roemer bremste abrupt seinen Lauf ab.
»Glauben Sie auch, was die herrliche Pythia da sagt?« fragte er heiser.
»Ja«, antwortete Dr. Hambach ernst.
»Und wenn ich ab sofort so solid lebe wie ein Einsiedlerkrebs? Kein Alkohol, keine Weiber, keine Zigarre …«
»Ich kann ohne gründliche Befunde gar nichts sagen. Ich werde mich hüten! Können Sie überhaupt anders leben?«
»Wer weiß das?« Roemer wischte sich den noch immer auf seinem Gesicht klebenden kalten Schweiß in ein großes Taschentuch. »Ich habe stets nach einem feinen Wahlspruch gelebt: Coitus, ergo sum! – Aber jetzt sitzt mir das Messer am Hals, nicht wahr?«
»Professor Willbreit wird ehrlich zu Ihnen sein, wenn er Sie gründlich untersucht hat.«
»Ist … ist Willbreit der richtige Arzt dafür?«
»Das müssen Sie entscheiden. Das Vertrauen des Patienten zu seinem Arzt ist die Basis jedes Erfolges. Ohne Vertrauen läuft nichts. Wenn man schon mit einem inneren Vorbehalt zu einem Arzt geht, sollte man lieber gleich wegbleiben. Meine Patienten kommen zu mir, weil ich ihr Freund, Kumpel,
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