Die strahlenden Hände
Bruder, Vater, Opa, Beichtvater oder sonstwas bin. Für jeden etwas anderes und doch immer das eine: ihr Doktor. Wenn sie bei mir in der Praxis sitzen oder liegen, fühlen sie sich geborgen. Dann wissen sie: Unser Doktor hilft uns. Er ist immer da. Uns kann keiner … na ja, sterben müssen wir ja mal jeder, aber unser Doktor, der schiebt das für uns ein Stückchen hinaus.«
»Es muß wunderbar sein, so empfinden zu können.« Roemer gab Dr. Hambach die Hand. »Ich kann's nicht, Doktor. Darf ich Sie noch einmal besuchen, wenn Willbreit mich untersucht hat?«
»Meine Tür steht immer offen, Herr Roemer.«
»Danke!« Roemer verließ das Haus und stapfte durch den Vorgarten. Willbreit stand am Wagen und wartete voller Ungeduld. Hinter dem Zaun lehnte sich Doerinck an einen noch jungen Birnbaum. Die räumliche Trennung zwischen Vorgarten und Straßenrand verhinderte eine Unterhaltung mit Willbreit. Ganz gut so, dachte Willbreit. Das erspart weitere Injurien. Er atmete sichtlich auf, als er Roemer aus dem Haus kommen sah.
»Auf Wiedersehen!« sagte Roemer, als er an Doerinck vorbeiging.
»Wirklich?« fragte Doerinck zweifelnd. Roemer blieb ruckartig stehen.
»Ja! Sie nehmen doch wohl nicht an, daß ich diesen Nachmittag vergesse? Ich bin gekommen, um Ihre Tochter, von der man schon Sagenhaftes erzählt, in Augenschein zu nehmen – und was geschieht? Sie haut mir meinen Tod um die Ohren! Das darf man doch wohl kaum als normal ansehen. Ich komme wieder …«
Er ging zum Wagen, schloß die Türen auf und ließ sich in den Fahrersitz fallen. Die ohnehin bereits verstärkten Federn ächzten und knirschten. Dr. Willbreit stieg auf der anderen Seite ein.
»Gib Gas!« sagte er verkniffen.
»Und wie!« Roemer zündete den Motor, trat voll auf das Gaspedal, und der schwere Wagen schoß wie katapultiert vorwärts. Willbreit wurde tief in die Polster gedrückt, hielt sich irgendwo fest und blieb halb liegend im Sitz.
»Bist du verrückt?!« schrie er. »Hab' ich's nur noch mit Verrückten zu tun?«
»Wir fahren jetzt nach Münster in die Klinik, und du untersuchst mich sofort. Mir ist völlig Wurscht, ob die anderen Ärzte – Röntgen, Inneres, Urologe oder wer sonst – noch anwesend sind. Trommele sie zusammen. Ich bin ein Notfall.«
»Das bist du nicht!«
»Hat dir schon mal jemand gesagt: Nur noch ein Jahr zu leben. Wenn das kein Notfall ist!«
»Ich überlege mir die ganze Zeit, wie ich der Frechheit dieses Weibsstücks begegnen kann.« Willbreit schob sich höher. Der Wagen raste auf die Autobahn nach Münster zu. »Was sie da von sich gibt, das ist doch strafbar!«
»Höchstens als Beleidigung. Aber ich fühle mich nicht beleidigt. Ich fühle mich total verunsichert.«
»Das ist es! Sie verbreitet Unruhe. Und das soll nicht strafbar sein?«
»Nur wenn sich jemand belästigt fühlt und sie anzeigt.«
»In Ordnung.« Willbreit starrte aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Münsterländer Landschaft. Felder, Gärten, Höfe, Sandgruben, Baumgruppen, gelbweiß in der Sonne leuchtende Wege, flache Hügel – ein gesundes, sattes, reiches Land. »Ich werde sie anzeigen.«
»Und mich als Zeugen benennen? Du wirst dich wundern, Thomas! Für mich sieht die Welt seit heute nachmittag völlig anders aus.«
*
Dr. Hambach stand in der offenen Haustür, als Doerinck vom Vorgartenzaun zurückkam. Er schüttelte den Kopf und blickte immer wieder auf die Staubwolke, die Roemers Wagen hinterlassen hatte, und die nun wie gelber Nebel in der heißen Luft hing.
»Hast du das gesehen, Ewald?« fragte Doerinck. »Haut ab wie ein Irrer. Willbreit ist vom Sitz gerutscht, das habe ich noch sehen können.«
»Es wird jetzt vieles ins Rutschen kommen, Stefan, und es wird keine fröhliche Achterbahnfahrt werden.« Hambach zog die Tür zu und hielt Doerinck fest, der zurück ins Wohnzimmer wollte. »Ich habe Angst um Corinna.«
»Ich auch, verdammt noch mal!« Doerinck senkte die Stimme. Die Tür zum Nebenraum war nur angelehnt. »Was könnte Willbreit anstellen, nach deiner Meinung?«
»Nichts. Er ist klug genug, um zu erkennen, daß man Unerklärbares ruhen lassen soll. Anders ist es bei Roemer. Das ist eine Posaune vor Jericho! Sein Bekanntenkreis ist so riesig und die Gesellschaft, in der er verkehrt, ist so voller Neurotiker, deren Hauptthema ihre angeblichen Krankheiten sind, daß ich einen Pilgerzug nach Hellenbrand befürchte, wenn Roemer überall herumerzählt: ›Sie hat mir ins Auge geblickt und meine Leber gesehen.
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