Die strahlenden Hände
daß dann genug Belastendes zusammenkam. »Solchem Übel muß man in den Anfängen wehren und mit der Wurzel ausrotten!« hatte Dr. Viebieg, der vor allem Betroffene, gerufen. »Wir dürfen erst gar nicht eine Welle der Gutgläubigkeit bei den leicht beeinflußbaren Menschen entstehen lassen. Nichts ist katastrophaler als Unruhe unter den Kranken.«
Dr. Wewes wollte am Sonnabend nach Hellenbrand fahren und Corinna Doerinck in die Enge treiben. Er hatte sich dafür eine fabelhafte Krankheit ausgedacht – eine miliare Lungenadenomatose. Eine geradezu perfide Krankheit, ein Alveolarzellkarzinom, das über lange Zeit hinweg, vor allem im Anfangsstadium, das Allgemeinbefinden nicht stört. Man hat nur ab und zu einen hartnäckigen Reizhusten. Wenn Corinna Doerinck sagte: »Ich kann Sie heilen!«, war sie überführt. Man brauchte dann kein weiteres Beweismaterial mehr.
Roemer soff seine Bierflasche leer, rülpste genußvoll und setzte sich in einen der breiten Ledersessel des Salons. Mit beiden Händen kratzte er sich die haarige gewaltige Brust, die einem Berggorilla gehören könnte. Und wieder dachte Willbreit bedrückt: So ein Mensch ist nun unheilbar krank! So ein Brocken von Mann! Es ist fast unerträglich, daß die Medizin hier versagt.
»Hast du dir überhaupt einmal Gedanken darüber gemacht, daß diese Corinna wirklich etwas Außergewöhnliches, etwas Unbegreifliches sein könnte und vielleicht tatsächlich unerklärbare heilende Kräfte aussendet?« Roemer streckte die Säulenbeine weit von sich und wackelte mit den Zehen. In der Eile, etwas Trinkbares aufzuspüren, hatte er seine Hausschuhe nicht angezogen, sondern lief barfuß herum.
»Ich habe mich durchaus damit beschäftigt.« Willbreit goß den zweiten Whisky ein. »Aber bei aller Toleranz: Solche Dinge kann ich nicht glauben. Bio-Plasma, telekinetische Strahlen, Dermooptik, Bio-Energie … ein realer Wissenschaftler – und ein Schulmediziner ist ein realer Wissenschaftler – muß da passen und kann nur den Kopf schütteln. Ich erinnere an den großen Virchow. Der hat, als die Diskussion um die Seele begann, gesagt: ›Ich habe Tausende von Menschen seziert – ich habe nie eine Seele gefunden!‹ Genauso ist es mit der sogenannten Parapsychologie.«
»Virchow war es aber auch, der sich an die Stirn tippte, als Robert Koch mit seiner Virustheorie kam. ›Tierchen!‹ hat er gerufen, im Hörsaal der Charité, ›Tierchen im Blut! Aber, meine Herren …‹ Und sich noch mal an die Stirn getippt, als ob Koch ein Idiot sei. Und alle lachten aus vollem Hals. Und wer hat recht behalten? Virchow oder Koch?«
»Das ist ein schiefes Beispiel!« Willbreit winkte ab. »Natürlich entwickelt sich die Medizin ständig weiter. Aber nicht auf dem Wunderheilsektor! Wissenschaftlich gesehen gibt es keine Wunder. Alles hat Ursache und Wirkung.«
»Corinnas strahlende Hände …«
»So etwas gibt es nicht.«
»Ihre Mutter hat sie vom Darmkrebs befreit.«
»Abwarten, Erasmus. Die Zeit ist der beste Wahrheitsbringer.«
»Du hoffst immer noch, daß Ljudmila Doerinck an ihrem Krebs stirbt?«
»Mein Gott, wie sprichst du! Hoffst! Ich hoffe doch nicht, daß jemand stirbt! Ich befürchte es und muß wissend und tatenlos dabeistehen. Es ist eine für mich fürchterliche Situation, begreifst du das nicht? Eine Operation hätte sie retten können – die eigene Tochter verhindert es, und elend geht die Mutter zugrunde. Das muß ich mit ansehen! Und das soll nicht aufregen? Ist es nicht eine Verpflichtung, dieser Corinna das Handwerk zu legen?«
»Und wenn Ljudmila Doerinck weiterlebt?«
»Ich halte das für ausgeschlossen.«
»Richte dich nach deinen eigenen Worten: Warten wir es ab!«
»Und du?« fragte Willbreit ahnungsvoll.
»Ich?« Roemer rieb die nackten Füße gegeneinander. »Ich warte auch.«
»Worauf?«
»Daß Corinna zu mir sagt: Jetzt können Sie kommen.«
»Wenn du dann noch dazu fähig bist, dich zu bewegen.« Das war hart, aber Roemer steckte es weg, als sei es eine ganz unbedeutende Feststellung. »Du läßt dich also nicht operieren?«
»Nein! Bist du deswegen gekommen?«
»Auch.«
»Dann halte dich am Whisky fest; nur so kannst du verhindern, daß ich dich rausschmeiße!«
Nach einer Stunde verließ Willbreit die Roemer-Villa wieder und fuhr zurück nach Münster. Lydia schlief fest, als er auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer kam. Sie lag nackt und schön auf dem Plumeau, mit ihren aufgelösten Haaren viel jünger aussehend als sie
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