Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Straße nach Eden - The Other Eden

Titel: Die Straße nach Eden - The Other Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bryant
Vom Netzwerk:
der obersten Schublade fand ich ein Vergrößerungsglas mit einem Sprung darin, drei rostige Federhalter und einen Stapel schwerer, vergilbter Papierbögen, allesamt unbeschrieben. In der nächsten Schublade lag ein Schlüsselring mit mehreren Schlüsseln daran. Ich nahm
ihn heraus, schloss die Schublade wieder, eilte die Treppe zum Ballsaal hinunter, durchquerte das Wohnzimmer und lief durch den hellen Korridor auf die verschlossene Tür zu. Die ersten drei Schlüssel passten nicht, der vierte ließ sich mühelos in das Schloss schieben. Auf der anderen Seite fiel etwas klirrend zu Boden.
    Ich stieß die Tür auf. Vor mir wand sich eine schmale Steintreppe in die Höhe und verschwand im Dunkel. Ein winziges, hoch oben in die Wand des Treppenhauses eingelassenes Fenster bildete die einzige Lichtquelle. Als ich die Tür hinter mir schloss, fiel mein Blick auf einen Schlüssel am Boden, der genauso aussah wie der, mit dem ich die Tür geöffnet hatte - mein Schlüssel musste ihn aus dem Schloss gestoßen haben. Ich hob ihn auf, schob ihn zusammen mit dem Schlüsselring in die Tasche und begann, die Treppe hinaufzusteigen.
    Zwar waren in regelmäßigen Abständen Fenster in die Wand eingelassen, aber sie spendeten nur ein spärliches Licht. Meine Beine begannen vor Anstrengung zu schmerzen; die steile Wendeltreppe ließ sich nur mühsam bewältigen. Während ich eine Stufe nach der anderen erklomm, fragte ich mich erneut, was ich eigentlich oben im Turm zu finden hoffte. Wenn es etwas Greifbares war, würde es mich vermutlich aus der Fassung bringen, so wie Eves Portrait es getan hatte. Und was würde ich diesmal tun, so weit weg von zu Hause? Schlimmer noch - was, wenn jemand in dem Turm hauste, der irrsinnig oder gewalttätig war? Störrisch wies ich diesen Gedanken weit von mir und kletterte weiter.
    Nach einiger Zeit erreichte ich einen schmalen Treppenabsatz. Dahinter schraubte sich die Treppe weiter in die Höhe, zu meiner Rechten lag eine Tür, bei der es sich um den Zugang zum Turmtreppenhaus vom ersten Stock handeln musste. Das durch das gegenüberliegende Fenster fallende
Licht warf einen stumpfen Glanz auf die Nägel in den Querbalken, den angelaufenen Messingknauf und den Schlüssel im Schloss. Die Beklommenheit, von der ich geglaubt hatte, sie abgeschüttelt zu haben, ergriff erneut von mir Besitz. Dennoch stieg ich bis zum letzten Absatz empor.
    Auch im dritten Schloss steckte ein Schlüssel auf der Innenseite, aber ich schenkte diesem Umstand kaum Beachtung, weil mich das, was ich vor mir sah, traf wie ein Schlag. Die Tür des Raumes ganz oben im Turm stand offen und gab den Blick auf ein Wohnzimmer aus einer vergangenen Epoche frei; makellos sauber, kein Stäubchen war zu sehen. Der Raum war rund, eine große Glastür ging auf einen schmiedeeisernen Balkon hinaus. Möbliert war er mit einem Sofa mit cremefarbenem Brokatbezug und einem altmodischen Mahagonischreibtisch. An der Wand gegenüber des Sofas stand ein dazu passender Kleiderschrank, eine Truhe aus demselben Holz war gegen die Wand neben der Tür geschoben worden. Auf der anderen Seite stand ein kleiner Tisch, darüber prangte ein kunstvoll verzierter alter Spiegel, der von einem horizontalen Sprung in zwei fast genau gleiche Hälften geteilt wurde.
    Als ich den Schrank öffnete, fand ich zwei alte Kleider, die denen ähnelten, welche Mary und ich auf dem Dachboden entdeckt hatten. Eines war aus einem fließenden wei ßen Stoff gefertigt, das andere aus roter, golddurchwirkter Seide. Ich betrachtete jedes Kleid ganz genau, rührte es aber nicht an, denn ich wusste nur zu gut, wo ich sie schon einmal gesehen hatte, etwas in mir sträubte sich dagegen, sie zu berühren, zu spüren, dass sie greifbar existierten.
    Ich schloss die Schranktür und trat zu der Balkontür hinüber. Sie war nicht abgeschlossen. Vom Balkon aus meinte ich, fast bis ins Unendliche sehen zu können. Das Herrenhaus der Plantage lag fast vollständig hinter den Bäumen
verborgen, die Auffahrt schlängelte sich zwischen ihnen zur Hauptstraße hindurch, die zum Dorf Eden führte: einer Ansammlung dicht aneinandergedrängter Puppenhäuschen inmitten von Dschungel und Sümpfen. Im Norden markierte ein schmutziger Fleck am Himmel die Stadt Baton Rouge.
    Ich konnte den Stand der Sonne nicht länger ignorieren. Alexander und Tascha mussten längst eingetroffen sein, und wenn ich nicht schon vermisst wurde, würde dies bald der Fall sein. Ich schloss die Glastür hinter mir.

Weitere Kostenlose Bücher